Attachment Parenting in der »Trotzphase«
Eine Kolumne von Susanne Mierau
Im ersten Lebensjahr erscheint es uns oft noch recht einfach, die Bedürfnisse des Babys zu erfüllen und harmonisch miteinander in Beziehung zu leben. Wird das Kind jedoch größer und der eigene Wille wird stärker ausgedrückt, Wünsche vehementer eingefordert, verbalisiert oder gar selbst durchgesetzt, geraten so manche Eltern, die im ersten Jahr von »Beziehung statt Erziehung« überzeugt waren, ins Straucheln: Ist das wirklich richtig? Muss ich mich nicht durchsetzen? Braucht mein Kind nicht Grenzen? Wird es gesellschaftsfähig, wenn ich alles durchgehen lasse?
Je mehr unser Kind die eigenen Überzeugungen in das Familienleben einbringen möchte, desto stärker gelangen wir mit unseren innersten Mustern und in der eigenen Kindheit geprägten Erfahrungen in Auseinandersetzung. Unsere Vorstellung davon, wie wir mit unseren Kindern umgehen wollen, unterscheidet sich von dem, was wir reflexartig denken und manchmal auch von unseren Handlungen: Während unser Verstand von , Unerzogen und Beziehung überzeugt ist, übernimmt unser emotionales Gehirn gern die Führung und möchte eigene Kindheitserfahrungen nachleben. kann zu einer Herausforderung werden, wenn wir mit inneren Mustern auf einmal in Konflikt geraten und uns Gedanken kommen, die wir nicht denken wollten oder gar Worte über die Lippen gelangen, die wir nicht sagen wollten.
Attachment Parenting Attachment ParentingDas Wichtige ist hier – wie in allen anderen Belangen auch – die Selbstfürsorge: Es ist normal, dass wir in einen Konflikt kommen, wenn wir selber andere Erfahrungen gemacht haben. Es ist normal, wenn unser Gehirn uns Handlungsweisen vorschlägt, die wir erlernt haben. Wir müssen zunächst nachsichtig sein mit uns selbst – und dürfen uns auch darum bedauern, dass wir so denken, wie wir denken aufgrund eigener negativer Erfahrungen. Gerade dann, wenn wir bindungsorientiert leben wollen, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit ein wesentlicher Bestandteil des Wachsens als Eltern und der persönlichen Entwicklung. Erst nach dieser Erkenntnis und dem Annehmen der eigenen Geschichte können wir reflektiert und offen auf unsere Kinder zugehen.
Aus dem Verständnis für uns selbst und auch dem Bedauern eigener Erfahrungen erwächst der Blick auf das eigene Kind neu. Als Eltern können wir dadurch wieder sehen, dass unser Kind eben auch mit zwei, drei und mehr Jahren noch ein sehr kleines Kind und auf Bindung angewiesen ist. Diese Bindung und die Unterstützung durch die Eltern würde es niemals durch absichtlich »böswilliges« Verhalten in Gefahr bringen. Kinder sind auf unsere Fürsorge angewiesen. Ihr Verhalten stellt sich nicht gegen uns, sondern erwächst aus dem Bedürfnis der Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit heraus. Gerade in der so genannten Trotz- oder Autonomiephase wird uns dies in vielen Situationen vor Augen geführt, denn das Kind protestiert, um Ressourcen für sich in Anspruch zu nehmen: materielle Ressourcen (Spielzeug, Nahrung etc.) oder Entwicklungsressourcen (Möglichkeit, sich allein anzukleiden, Zuwendung von Erwachsenen bekommen zur Unterstützung von Fertigkeiten). Es zeigt den Wunsch, autonom zu werden – eine wichtige und notwendige Entwicklung. Das Verständnis um diesen Entwicklungswunsch ist es, das es uns Eltern wieder erleichtert, das kindliche Verhalten richtig einzuordnen und angemessen darauf zu reagieren. Begreifen wir diese Zeit nicht als Widerstand oder Auflehnung, sondern als Wunsch nach Weiterentwicklung und Selbständigkeit, fällt es uns wieder leichter, mit dem Kind in Beziehung zu treten und es auf seinem Weg zu unterstützen. Wir betrachten das Verhalten des Kindes, sehen darin den persönlichen Sinn und suchen einen Weg, dieses Bedürfnis zu unterstützen. Unterstützung kann stattfinden durch Zuhören, durch konkrete Hilfe, aber auch durch das Erprobenlassen, durch Zuwendung in einem Wutanfall, um das Kind bei der Regulation der Gefühle zu unterstützen, die es allein noch nicht bewältigen kann.
Wenn wir den wirklichen Grund für das Verhalten des Kindes akzeptieren und den Gedanken daran aufgeben, dass das Kind uns in dieser Zeit auf die Probe stellen will, können wir wieder entspannt in Beziehung sein und den bindungsorientierten Weg fortsetzen, den wir beschritten haben. Dann fällt es uns auch leichter, anzunehmen, dass es sich nicht nur nicht um »Trotz« handelt, sondern wir auch gar nicht von einer »Phase« sprechen können, da die kindliche Autonomie und der Wunsch nach Entwicklung ein Bestandteil des gesamten Lebens sind und wir als Eltern uns vom Anfang bis zum Ende mit dem Willen des Kindes nach Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit auseinander setzen sollten, um ihn zu begleiten und nicht zu unterdrücken. ■
Susanne Mierau
ist Diplom-Pädagogin, Heilpraktikerin und Familienbegleiterin und bloggt seit fünf Jahren auf ihrem erfolgreichen Blog geborgen-wachsen.de. In ihrem neuen Buch Ich! Will! Aber! Nicht! Die Trotzphase verstehen und gelassen meistern hat sie sich mit der bindungsorientierten Begleitung der Autonomiephase beschäftigt.