Gesellschaftspolitisch auf dem Weg der gewaltfreien Erziehung
In der zwischenmenschlichen Wirklichkeit geht es auf allen Ebenen immer um die Frage, wie die einzelnen Mitglieder miteinander kommunizieren. Vor allem geht es darum, als wer oder was der Einzelne betrachtet wird oder sich selbst betrachtet: als selbstbestimmter Mensch, als Subjekt oder als fremdbestimmt, als fremdzubestimmendes Objekt? Ein offener Brief an den neuen Bundespräsidenten zu seiner kürzlichen Amtsübernahme.
Franziska Klinkigt
Hochverehrter Herr Steinmeier, auf diesem Wege möchte ich als verantwortungsvolle Psychologin, achtsame und nachdenkliche Bürgerin dieses Landes sowie als Mensch vertrauensvoll das Wort an Sie als den zu beglückwünschenden neu amtierenden Bundespräsidenten richten und mich mit einem als sehr besorgniserregend einzuschätzenden Anliegen an Sie wenden. Seit mehreren Jahren werde ich aufgrund meiner Einblicke in die alltägliche Wirklichkeit, in der junge Menschen hierzulande aufwachsen – die familiäre, die schulische, die kinder- und jugendpsychiatrische und -psychologische, die – der teils offenen, vor allem aber der subtilen und strukturellen sowie staatlich geförderten und geforderten Gewalt gewahr, der sie ausgesetzt sind. Was mich am meisten daran schockiert, ist die Tatsache, dass diejenigen, die auf diese Bedingungen mit Symptomen reagieren – die als eindeutiges Zeichen von Gesundheit zu betrachten wären, als gesunde (Abwehr-)Reaktionen auf ungesunde Bedingungen –, pathologisiert und kriminalisiert werden. Und dass sie weiterhin gezwungen werden, in diesen Bedingungen zu bleiben, und dass vor allem diejenigen, die gesündere Wege gehen, sich erschließen wollen, gewaltsam daran gehindert werden (mit der Begründung, es sei zu ihrem Besten und es gebe keinen anderen Weg). Ich empfinde dies regelrecht als kollektives Verbrechen an unserem Nachwuchs und damit letztlich an uns selbst als gesamtgesellschaftliche Gemeinschaft. Würden wir hier erkennen, dass das, was uns als unerwünscht, abweichend, unnormal oder gar (verhaltens-)auffällig erscheint, wertvolle wegweisende (Rückmeldungs-)Signale sind, und diese als Chance begreifen, kämen wir der Gesundung einzelner und der Gesamtheit näher.
Sie zitierten in Ihrer Rede vom 22. März 2017 eine wunderschöne kleine Geschichte, die der ehemalige israelische Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger Shimon Peres einmal erzählt hat: »Die Zukunft ist wie ein Kampf zweier Wölfe. Der eine ist das Böse, ist Gewalt, Furcht und Unterdrückung. Der andere ist das Gute, ist Frieden, Hoffnung und Gerechtigkeit.« Und auf die gespannte Frage seiner Zuhörerin, wer den Kampf gewinne, antwortete Peres lächelnd: »Der, den du fütterst.« Würden Sie also mein Bestreben teilen und unterstützen, Gesundes zu füttern und Heilung zu nähren, statt gegen etwas zu kämpfen und (damit) Ungesundes zu stärken?
Die Frage der (erzieherischen) Gewalt
In zwei Jahren wird es vierzig Jahre her sein, dass in der offiziellen Broschüre des Bundesjustizministeriums zum »reformierten« elterlichen Sorgerecht Folgendes zu lesen war:
»als zulässiges Mittel elterlicher Erziehung wird allgemein unter anderem die körperliche Züchtigung angesehen. (…) Diese darf als Erziehungsmittel im Rahmen des durch den Erziehungszweck gebotenen Maßes verwendet werden. (…) Gegen ein ausdrückliches gesetzliches Züchtigungsverbot (…) spricht, daß aus pädagogischer Sicht über Wert und Unwert der körperlichen Züchtigung als Erziehungsmittel noch nicht hinlänglich Klarheit besteht«.
Ihnen wird bekannt sein, dass es eine Weile gedauert hat, bis sich hier endlich auf gesetzlicher Ebene etwas geändert hat, und dass es zuvor einigen Widerstand gab. Und ebenfalls, dass das Recht junger Menschen auf gewaltfreie Erziehung diese noch nicht auf lebenspraktischer Ebene garantiert.
Die Gewalt-Problematik, die ungleich komplexer in unseren gesellschaftlichen und Denkstrukturen verankert ist, offenbart sich jedoch ganz konkret an der Gestaltung unseres Schulsystems – welches offensichtlich immer mehr und mehr Raum im Leben heranwachsender Menschen einnimmt. Bekannterweise wird dieses zwar seit jeher allseits kritisiert und kann in seiner täglichen Praxis sich aus psychologischer, hirnphysiologischer, systemisch therapeutischer, philosophischer, ethischer und menschenrechtlicher, aber auch aus wirtschaftlicher Sicht nur als zutiefst bedauerlich und besorgniserregend bis katastrophal beurteilen lassen. Dennoch wird es als einzig richtiger und alternativloser Weg angesehen. Die darin gefangenen Menschen – die Jüngeren, die sogenannten Schüler, wie die Älteren, die Lehrer– erleiden nicht mehr zu rechtfertigende Schäden – nicht mehr zu rechtfertigen aus sämtlichen Perspektiven: der psychologischen, gesundheitlichen, ethischen, nicht einmal der rechtlichen und sogar der wirtschaftlichen!
Was ist angesichts dieser Tragödie mit denjenigen Menschen, die gesunde, selbstbestimmte und daher erfolgreiche Wege anstreben (wollen)? Kann es rechtens sein, sie daran mit Zwangs- und Gewaltmaßnahmen zu hindern? Wie kann ermöglicht werden, dass diese Menschen frei sich bilden können, also nicht nur individuelle Gesundheit genährt, sondern auch zu einer gesamtgesellschaftlichen Gesundung beigetragen wird? Es ist für mich, wie gesagt, als Psychologin, verantwortungsvoll nachdenkliche Bürgerin dieses Landes und als Mensch nicht hinnehmbar und ich empfinde es als unverantwortlich (uns allen gegenüber!), dass Menschen gezwungen werden, sich Bedingungen zu unterwerfen, die 1. sie nicht gewählt haben, nicht haben wählen dürfen, 2. sie subjektiv als nicht optimal, ungut oder sogar schädigend erleben und die 3. hinsichtlich Nutzen und Schaden, Effektivität und Sinnhaftigkeit als höchst zweifelhaft zu betrachten sind – vor allem angesichts des gesunden Potenzials, mit dem diese Menschen auf die Welt kommen, welches dann sukzessive und systematisch kaputt gemacht wird!
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung ist noch nicht auf lebenspraktischer Ebene garantiert.
Kann die Botschaft der Aussage, die vor einigen Wochen ein Richter in einem Bußgeldverfahren wegen Schulpflichtverletzung von sich gegeben hat (ein Verfahren übrigens, welches mit einem Freispruch endete!) von fried- und freiheitsliebenden Menschen in einem demokratischen Land hingenommen, gutgeheißen, verantwortet und gerechtfertigt werden:
»Aus unserer Sicht muss zum Zwecke der Durchsetzung der Schulpflicht Gewalt angewendet werden.«
Wie vor vierzig Jahren, lautet es heute noch und wieder: Derzeit wird die (Zwangs-)Beschulung noch allgemein als zulässiges Mittel der Erziehung, Bildung und Sozialisation angesehen und deren Durchsetzung mit Gewalt als erforderlich betrachtet. Gegen das wirklich notwendige und notabwendende Recht, frei und selbstbestimmt sich zu bilden, spricht jedoch nur, dass einerseits über Wert und Unwert der Beschulung nicht ernsthaft reflektiert wird, andererseits die Annahme dem jungen Menschen müsste aufgrund geringen Alters Kompetenz und Urteilsvermögen abgesprochen und somit seine Grundrechte eingeschränkt werden .
Entsprechend der von Ihnen zitierten Aussage des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann 1969 – »Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. […] Freiheitliche Demokratie muss endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden.« – stehen wir noch am Anfang einer wirklich gewaltfreien zwischengenerationellen Beziehungsgestaltung. Junge Menschen wirklich als Menschen anzuerkennen und zu respektieren, ist einigen unter uns noch ganz und gar nicht selbstverständlich geworden.
Mut, Ihnen offen zu sagen, was ist
Die Worte in Ihrer Rede, hochverehrter und geschätzter Herr Steinmeier, lösen in mir ein imaginäres Gespräch mit Ihnen aus. »Die Demokratie braucht Mut auf beiden Seiten – auf der Seite der Regierten ebenso wie auf der Seite der Regierenden«, sagen Sie. »Denn nur wer selber Mut hat, kann auch andere ermutigen, und nur der kann Mut erwarten. Politik tut sich keinen Gefallen, wenn sie über Sorgen der Menschen, über politische Fehlentwicklungen, über offene Fragen nicht ebenso offen redet.« So möchte ich offen mit Ihnen reden: Ja, es geht genau um die bleibende Aufgabe, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu verteidigen!
Sie sagten: »Die Anfechtung der freiheitlichen Demokratie findet nicht nur bei anderen statt – weit westlich und östlich der europäischen Grenzen.«
Ich stimme zu: Unrecht, Gewalt und un- bzw. antidemokratisches Verhalten bzw. derlei Strukturen existieren nicht nur dort, wo sie in mehr oder minder brutalen Ausmaßen offensichtlich und offen sichtbar sind, sondern auch da, wo wir gar nicht hinschauen und vielleicht sogar alles in bester Ordnung wähnen.
Sie sagten : »Die Wahrheit ist doch: Eine neue Faszination des Autoritären ist tief nach Europa eingedrungen.«
Ich frage nun: Ist dies verwunderlich angesichts unserer staatlichen Erziehung, die einen jeden Heranwachsenden durch eine Institution schickt, die in sich autoritär ist, die durch Hierarchie gekennzeichnet ist, die Anpassung und Unterordnung verlangt , die Gehorsam und das Unterwerfen unter Autoritäten verlangt , die Menschen vom Urteil anderer (hiermit auch Lob!) abhängig macht, die Menschen ihr eigenes Urteilsvermögen abspricht bzw. dies ignoriert und nicht dazu einlädt, kurz: die Abhängigkeit und Unfreiheit nährt, schafft und fordert und Selbstbestimmtheit und die Fähigkeit selbst zu denken erstickt? Oder umgekehrt: Können wir diese Erziehung noch verantworten angesichts der von Ihnen hervorgehobenen bedenklichen Wahrheit?
Sie sagten: »Aber es gibt auch das andere, die schleichende Erosion von innen: durch Gleichgültigkeit, Trägheit und Teilnahmslosigkeit.«
Schauen wir an den Anfang, was mit jedem neuen Menschen geschieht, von denen kein einziger(!) gleichgültig, träge und teilnahmslos auf die Welt kommt! All diese Schäden entstehen, wenn Menschen nicht in ihrer Selbstbestimmtheit unterstützt und geachtet werden, wenn sie nicht einbezogen, sondern ausgeschlossen werden. Und was geschieht allseits bei Jung wie Alt: Werden sie nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, aus dem Leben abgeschnitten, indem die Jüngsten wie die Ältesten in Institutionen und Einrichtungen weggesperrt, kaserniert werden – und alle dazwischen in der »Arbeitswelt« gefangen sind (Wer Michael Endes Momo gelesen hat, findet seine Geschichte in unserer und umgekehrt)? Sie fragen, wo sonst als in der Demokratie so unterschiedliche Interessen von Alt und Jung friedlich zum Ausgleich gebracht werden können. Sie fragen: »Wo denn sonst als in der Demokratie begegnen sich Bürger unabhängig von ihrer Herkunft als Gleiche und Gleichberechtigte?« Nur müssen wir uns nicht fragen: Wo begegnen sich denn Menschen vielfältigen Alters überhaupt noch? Und vor allem: wo unabhängig von ihrem Alter als Gleiche und Gleichberechtigte?
Sie sagten: »Aber Politik muss verstehen, dass die Zeiten besondere sind: Zeiten, in denen alte Gewissheiten verschwunden und neue nicht an ihre Stelle getreten sind… (…) Wir leben in Zeiten des Übergangs. Wie die Zukunft wird, darauf gibt es nicht nur eine Antwort. Da ist Zukunft nicht alternativlos. Im Gegenteil: Die Zukunft ist offen, und sie ist überwältigend ungewiss!«
Wir leben mitten in einer Übergangphase der Qualität zwischengenerationeller Beziehungen: Dem amerikanischen Sozialwissenschaftler Lloyd deMause zufolge entwickeln sich diese wieder weg von durch Gewalt gegen den Nachwuchs geprägten Stadien (Gewalt, die es in der Menschheitsgeschichte nicht immer gegeben hat, die erst mit der Sesshaftwerdung Einzug fand). Laut deMause befinden wir uns in der Übergangsphase von der Sozialisation hin zur Unterstützung – und dies seit den 1950er Jahren, nur ist der Absprung noch nicht geschafft. Während die Phase der Sozialisation von der Vorstellung geleitet ist, dass Erwachsene für sich das Definitionsprimat beanspruchen über die Ziele sowie darüber, was gut und schlecht ist, und dass sie glauben, »das Kind auf den richtigen Weg führen« zu müssen, sind Mütter und Väter, die ihren Nachwuchs unterstützen , von dem Vertrauen geleitet, dass jeder Mensch, also auch dieser, zu jedem Zeitpunkt seines Lebens letztlich selbst am besten weiß, was für ihn gut oder richtig ist. Die Qualität der Unterstützung entspräche nicht nur der sinnvollen (Beziehungs-)Gestaltung eines wirklich freiheitlich-demokratischen (Vater) Staates, sondern wäre auch die einzig sinnvolle Begleitung von Menschen, die in eine ungewisse, offene, unvorherseh- und -sagbare Zukunft hineinwachsen! Nie scheint es wichtiger gewesen zu sein als heute, dass Menschen sich als selbstbestimmte Wesen erleben, die an der Gestaltung dieser Welt aktiv teilnehmen können, wollen und dürfen, anstatt sich in eine fremdbestimmte, fremdgestaltete Welt zu fügen. Ja, hochverehrter Herr Steinmeier, es ist wie Sie sagten: »Diese Offenheit, die bei den einen Hoffnung auslöst, jagt anderen Angst ein!« Und aus dieser Angst heraus agieren Menschen derzeit noch sehr gewaltsam.
»Und wo sonst als in der Demokratie, wo Minderheiten Stimme und Gehör finden, soll uns die gewaltige Aufgabe der Integration gelingen?«, fragen Sie. Denken Sie, dass die jungen Menschen unter uns, die als »letzte unterdrückte Minderheit« zu bezeichnenden »Kinder« gebührend und ausreichend Stimme und Gehör finden? Es gibt Kulturen auf unserer Welt, in welchen gerade die jungen Menschen geschätzt werden als richtungsweisend, als gestaltend, als ernstzunehmend, als aktive Gestalter – und was machen wir? Weshalb sperren wir sie weg und unterziehen sie der Anleitung der »Alten«, die längst verinnerlicht haben, dass zwar Vieles nicht gut ist, aber »man eh nichts machen kann«, es hinnehmen muss, halt »da durch muss, denn das Leben ist schließlich kein Ponyhof«. Wir setzen sie resignierten Personen aus, die ihnen Prophezeiungen entgegenwerfen wie: »Euch erwartet eh nichts anderes als Hartz-IV.« Von Menschen, die in der Bildung junger Erwachsener tätig sind, habe ich schon mehrfach gehört, dass gebeutelte junge Menschen das Schulsystem verlassen und hinsichtlich ihres Selbstbildes, ihres Selbstvertrauens und ihrer Zuversicht angesichts der Zukunft erst einmal mühsam aufgepäppelt werden müssen, ehe sich überhaupt Inhalten gewidmet werden kann. Was ist mit der jungen Frische, Energie, den klugen Ideen? Ich kenne Sechs-, Acht- und Zehnjährige, die wesentlich älteren Menschen an Weisheit und Klarheit Meilen voraus sind! Weshalb diese also integrieren in eine fragwürdige Lebensweltgestaltung und ihre Potenziale ersticken? Sie, geschätzter Herr Bundespräsident, freuten sich »über die vielen, vor allen Dingen jungen Menschen, die in diesen Tagen auf die Plätze gehen und uns den Puls von Europa wieder spüren lassen« – sollten wir da nicht jeden jungen Menschen unterstützen, der aktiv und selbstbestimmt sein Leben gestalten möchte und damit einen gesunden Puls Europas nährt? Wie ernst nehmen Sie oder wir Peres ' Botschaft an die jungen Leute(?): »Du hast es in der Hand! Wir haben es in der Hand!« Lassen wir sie derzeit nicht ständig wissen, glauben und spüren, dass sie es gerade nicht in der Hand haben?
Ihre Worte in jedermanns Ohr und Herzen
Ihren Worten zufolge wollen Sie eines, lieber Herr Bundespräsident: »dass wir in Deutschland festhalten an dem Unterschied von Fakt und Lüge. Wer das aufgibt, der rührt am Grundgerüst von Demokratie!«
Ich möchte, hochverehrter Herr Steinmeier, am Grundgerüst des Demokratischen festhalten und an dem der strukturellen Gewalt rühren und rütteln. Beispielsweise mit diesen Fragen: Ist es Fakt oder Lüge, dass es eines Schulanwesenheitszwangs (als welcher sich unsere genannte Schulpflicht praktisch entpuppt) bedarf , um Menschen einen guten Lebensweg zu ermöglichen, bzw. dass dieser einen solchen gewährleistet? Ist es Fakt oder Lüge, dass es der Kriminalisierung und/oder Pathologisierung von Menschen bedarf , die sich diesem Zwang nicht beugen und andere Wege erschließen wollen, z. B. selbstbestimmt und frei sich zu bilden? Ist es Fakt oder Lüge, dass das so sein und von staatlichen Behörden gewaltsam durchgesetzt werden muss? Ist es Fakt oder Lüge, dass ein Schulanwesenheitszwang mit den Prinzipien einer Demokratie vereinbar und verfassungsgemäß ist?

Kein einziger Mensch kommt gleichgültig, träge oder teilnahmslos auf die Welt.
Sie fragen, wie wir das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung erneuern, das Sie persönlich und eine ganze Generation auf den Weg gebracht hat. Ich wage zu behaupten, dass 1. Aufstieg durch Bildung nur ermöglicht, nie jedoch verlangt oder erzwungen werden kann; dass 2. das Versprechen eines Ermöglichens niemals erfüllt werden kann und es eine reine Behauptung und blanker Hohn bleiben wird, solange »Bildung« bedeutet, junge Menschen, die allesamt eigene, individuelle Potenziale haben, durch eine Institution zu jagen, die von vornherein in sich so strukturiert ist, dass sie »Erfolgreiche« und »Gescheiterte« produziert, »Gute« und »Schlechte«, »Gebildete« und »Ungebildete«. Gerade auch in Deutschland wird diese selbst produzierte Schere zwischen vermeintlich »bildungsnahen« und »bildungsfernen Schichten« immer größer, weil wir versuchen, dies Drama mit mehr desselben zu bekämpfen, wodurch wir es überhaupt selbst produziert haben: mehr Be- und Verschulung von Menschen!
Ich möchte Ihre Aussage ernst nehmen: »Wir leben in hoch politischen Zeiten. Das verlangt den Mut, zu sagen, was ist – und: was zu tun ist! (…) All die Mutigen, all die, die Partei ergreifen für die Demokratie, werden jedenfalls den Bundespräsidenten dabei an ihrer Seite wissen.«
Was ist also zu tun? Sie wollen eine »Deutschlandreise ganz besonderer Art« antreten und »an die Orte der deutschen Demokratie gehen – und vor allen Dingen hin zu den Menschen, die sie leben und beleben«. Sie wollen »zu denen, die nach ihrem wohlverdienten Feierabend in Gemeinderäten um das Schwimmbad oder die Bücherei in der Nachbarschaft ringen«. Damit haben Sie selbst schon zwei wunderbare Orte genannt, an denen Menschen selbstbestimmt und frei sich bilden können. Solche und vielerlei mehr Orte können von der öffentlichen Hand unterstützt den Menschen zur Verfügung stehen. Jeder Mensch könnte dahingehend Unterstützung finden, dass er diese Orte nutzen kann, um sich zu bilden. Ihr Versprechen wäre das Ermöglichen für jeden. Die damit einhergehende Abkehr von einem Schulanwesenheitszwang entspräche einer Kultur, die einer Demokratie würdig wäre. Ja, »mit dem Grundgesetz ist ein ganz kleines Stück festen Bodens für das deutsche Schicksal geschaffen«, zitieren Sie den ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, »am Tag, als unsere Verfassung in Kraft trat«. Jedoch: Kann dieser Boden überhaupt gedeihen, solange Menschen in der Zeit ihrer ersten Lebensphase nicht als gleichermaßen zu würdigende und respektierende Menschen betrachtet und behandelt werden? Wenn sie in ihren Grundrechten derart beschnitten werden, wie sonst eigentlich nur eine andere »Kategorie« von Menschen: die der Strafgefangenen? Wenn die Würde des Menschen in Bezug auf die letzte unterdrückte Minderheit faktisch nur eine Luftblase darstellt?
Aus der Dissertationsschrift des Juristen Tobias Handschell , mittlerweile Richter im Raum Stuttgart, weiß ich, dass unsere Grundrechte dazu dienen, dem Menschen verantwortliches, gemeinwohlförderliches Verhalten zu ermöglichen. Erzwingen könne der Staat dieses nicht! Aus psychologischer Sicht ist das dem Grundgesetz zugrundeliegende Menschenbild sehr weise und vielversprechend, nur hapert es noch immer an der lebenspraktischen Umsetzung. Ein entscheidender Schritt wäre eine Auflösung der Altersdiskriminierung!
Gern möchte ich Ihnen für Ihre Deutschlandreise hin zu Menschen, die Demokratie beleben, eine Station empfehlen: Am 15. September 2017, dem Internationalen Tag der Bildungsfreiheit, wird im hessischen Gießen ein interdiszipliäres Kolloquium stattfinden mit dem Titel Selbstbestimmte Bildungswege als Kindeswohlgefährdung ?
Bedeutet mutig für die Demokratie zu streiten nicht auch, dass der Mensch – selbstverständlich auch der junge Mensch unter 18 Jahren – im Mittelpunkt steht in seiner Würde und Selbstbestimmtheit? Denn wenn er geachtet und respektiert aufwächst, wird er auch seinen Mitmenschen und seiner Umwelt Achtung und Respekt entgegenbringen – sich also gemeinwohlförderlich einbringen.
Sie fragen: »Ist es nicht eigentlich ganz wunderbar, dass unser Land, ein Land mit dieser Geschichte, zu einem Anker der Hoffnung in der Welt geworden ist?« Nachdem der international bekannte amerikanische Psychologieprofessor Peter Gray in Berücksichtigung der Menschheitsgeschichte das aktuell weltweit herrschende Schulsystem als »gescheitertes preußisches Experiment« bezeichnet hat, ist es eine charmante Vision, dass unser Land mit der Gestaltung einer menschen- und demokratiewürdigen Bildungslandschaft zu einem Anker der Hoffnung und Leitbild in der Welt werden könnte. Was ist zu tun? So schreibt Peter Gray in seinem Artikel Die grundlegendste aller Freiheiten ist die Freiheit, etwas abbrechen und weggehen zu :
Schulen werden – wie alle Institutionen – nur dann zu ethisch vertretbaren (Bildungs-)Einrichtungen werden, wenn die Menschen, denen sie dienen, nicht länger deren Häftlinge sind. Wenn Schüler die Freiheit haben wegzugehen, werden Schulen ihnen weitere grundlegende Menschenrechte zugestehen müssen, etwa das Mitspracherecht bei Entscheidungen, die sie betreffen, das Recht auf Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Recht, ihren eigenen Weg zum Glücklichsein zu wählen.
Wer also, wenn nicht Sie, hochverehrter Herr Steinmeier und geschätzter Herr Bundespräsident, ist gefragt, mutig für diese Angelegenheit zu streiten!
Mit freundlichen und Sie schätzenden Grüßen ■
Franziska Klinkigt
ist Diplom-Psychologin und Systemische (Familien-)Therapeutin, die sich u. a. intensiv mit Fragen der Gewalt in Kontexten der Kindheit und der Schule beschäftigt. Sie berät und begleitet Mütter und Väter, die sich einen liebevollen, authentischen und gewaltfreien Umgang mit ihren Töchtern und Söhnen wünschen, unterstützt junge Menschen und ihre Familien auf selbstbestimmten Bildungswegen und ist deutschlandweit zu Vorträgen und Seminaren unterwegs. Sie lebt in Gießen und ist Mutter zweier Töchter und eines Sohnes.
Tobias Handschell: Die Schulpflicht vor dem Grundgesetz. Geschichte der Schulpflicht und ihre verfassungsrechtliche Bewertung vor dem Hintergrund des sogenannten Homeschooling. Nomos, 2012.
Folgeveranstaltung zum Kolloquium im Jahr 2014, welchem das gleichnamige, beim tologo verlag erschienene Buch entsprang: Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung versus Schulpflicht.
In: Franziska Klinkigt: Wer sein Kind liebt … Theorie und Praxis der strukturellen Gewalt. tologo verlag, 2015.