»Die Weigerung ein Gebäude zu betreten ist kein Todesurteil für die eigene Zukunft«

In vielen Vereinen und Organisationen gibt es soziales und bürgerschaftliches Engagement rund um die Themen Bildung und Leben mit Kindern. In dieser Reihe werden einige davon vorgestellt. Den Anfang macht Schulfrei Bewegung e. V. Ein Interview mit dem Vereinsvorsitzenden und Gründungsmitglied Richard Krutisch .

Wie ist der Schulfrei Bewegung e. V. entstanden und durch wen?

Ein Leben ohne Schule organisierte sich vor der Gründung des Vereins hauptsächlich um Widerstand gegen die Behörden, Bußgeldverfahren und die Unrechtmäßigkeit der Schulpflicht. Ich schrieb eine systematische Aufarbeitung der ganzen rechtlichen Umstände. Ich rief Jugendämter an und sprach mit einer Menge Politikern. Das zog dann immer mehr Menschen an. Viele Familien konnten so eine Menge Probleme vermeiden, manche fanden dadurch sehr einfache Auswege. Andere benötigten Begleitung. Ich schreibe diese Aufarbeitung gerade noch einmal komplett neu und manchmal muss ich schon lachen, wie rudimentär meine erste Version war.

Damals waren wir eine recht große Gruppe von etwa 600 Personen, organisiert über soziale Netzwerke. Dort kristallisierte sich eine Gruppe heraus und mit der Zeit kam die Idee eines Vereins, den wir dann gründeten. Das waren alles ganz normale Familien, die halt irgendwie auf das Thema kamen. Unter anderem durch eure Zeitschrift, aber auch durch Richard David Precht, Gerald Hüther, den Film Alphabet und ein paar eurer Bücher. Bei der Gründung im Sommer 2016 waren natürlich Familien um Karlsruhe und München überrepräsentiert. Heute haben wir Mitglieder aus ganz Deutschland.

Was war die zugrundeliegende Idee des Vereins?

Die war, dass bei dieser Thematik Staat und Familien eine Menge gemeinsamer Interessen haben. Beispielsweise das Kindeswohl an erster Stelle, Bildung für die nächste Generation als wichtigster Faktor für ein glückliches Leben, bessere Beziehungen, tolerantere und engagiertere Bürger.

Man könnte sogar sagen, dass Staat und Familien fast deckungsgleiche Interessen haben – man muss sie nur zusammenbringen. Und um diese Idee entstand der Verein. Es geht darum Gemeinsamkeiten aufzudecken, sichtbar zu machen und gegenseitige Unterstützung zu erreichen.

Besonders wenn es um die Schulpflicht geht. Da herrscht eine Grundstimmung des Misstrauens. Eltern gegenüber dem Jugendamt. Die Schule gegenüber den Eltern und so weiter. Diese schadet Kindern am Ende, weil staatliche Institutionen, wie z. B. das Jugendamt, die eigentlich helfen sollen, von Familien gemieden werden. Dadurch erreicht wichtige Hilfe viele Kinder viel zu spät. Deswegen muss auch das Jugendamt auf das Primat des Kindeswohls getrimmt werden.

Offiziell ist das schon die Aufgabe des Jugendamtes, es muss also nur viel stärker sichtbar gemacht werden – dem Jugendamt, aber auch einer breiten Öffentlichkeit. Auch was die Schulpflicht betrifft sind alle Parteien zuallererst dem Kindeswohl verpflichtet.

Was ist der Zweck bzw. das Ziel des Vereins?

Ziel und Zweck sind die Unterstützung von Menschen, die ohne Schule leben. Man kann Kinder und Familien nicht einfach fallen lassen, bloß weil sie aus dem System fallen.

Hier muss eine unterstützende Bildungsstruktur helfen. Zusätzlich eine, die Familien unterstützt mit dieser Herausforderung fertig zu werden. Ebenfalls müssen Familien in dem Moment auch die Sozialisationskomponente der Bildung aktiv angehen. Man hat nicht mehr den einen Platz wo es alles umsonst (oder gegen ein Schulgeld) gibt, sondern man muss aktiv mit der Welt und seiner Umwelt interagieren. Dieses Aktiv-Sein ist es aber auch, die Bildung von reinem Bildungs-Konsum unterscheidet.

Es geht darum hier das Kindeswohl in den Mittelpunkt zu setzen und bei jeder Familie an der zentralen Frage zu arbeiten: Wie kann man dieser Familie am besten helfen?

Wie will der Schulfrei Bewegung e. V. diesen erreichen?

Ein bekannter Philosoph fragte einmal: Stellen wir uns vor, wir würden die Schulen komplett niederreißen. Wie sähe die Welt dann aus?

Für viele Familien ist dies schon Realität. Bei unserem letzten Vereinstreffen waren bis auf zwei Kinder alle schulfrei. Trotzdem ist die Lage schlimm. 90 % gehen aus dem Schulsystem, weil sie gezwungen werden – nur wenige entscheiden sich aus grundlegenden Überlegungen für eine bessere Bildung. Laute Schulklassen, Mobbing, katastro- phale Zustände, jahrelanges Lernen ohne wertvolle Ergebnisse. Das zieht sich durch alle Schularten; nur aus Montessori-Schulen kommen recht wenig Klagen.

Aktuell erstellen wir Materialien, etablieren Treffen, haben eine 2-wöchentliche Online-Sprechstunde. Es geht darum eine neue Infrastruktur zu schaffen. Die aktuellen Gesetze geben eine gute Grundlage für ein schulfreies Leben. Aber wenn die rechtliche Frage einmal geklärt ist, dann erst beginnt das eigentliche Abenteuer: Dann muss man den Alltag bestehen. Und vor allem: Ein Leben bieten, das wirklich besseres Lernen und Entfalten bringt als Schule. Da wir alle in der Schule waren ist das eine große Herausforderung: Neuland, das aus Umdenken, sich schlau machen und Loslassen besteht.

Gibt es Meilensteine? Was hat der Verein bis jetzt erreichen können?

Nach der Gründung haben wir zuallererst die Gemeinnützigkeit erreicht – dies wurde von vielen für unmöglich gehalten. Bei so einem heiklen Thema! Dennoch es war wichtig, um zu zeigen: Hier geht es um ein Thema, welches in die Mitte der Gesellschaft gehört. Schüler sind eine der größten Bevölkerungsgruppen – und doch praktisch ohne wirkliche Vertretung.

Ein Leitfaden über die Funktionsweise der Schulgesetze und der Schulpflicht wurde erstellt. Fälle dokumentiert. Viele Familien springen da leider ins kalte Wasser – ohne jegliche Schwimmkenntnisse. Und dann entstehen so viele Missverständnisse zwischen Schule und Familie. Den bisher heftigsten Fall hatte ich, als sich eine Mutter an mich wandte, nachdem die Polizei ihre Wohnungstür aufgebrochen hatte, um die Kinder zur Schule zu bringen. Wir konnten das dann alles in geregelte Bahnen lenken und die Kinder konnten mittlerweile schulfrei ihre Abschlüsse machen.

Wenn die Aufklärung über den Rechtsstaat und die Rechte besser wären, dann würde die Schulpflicht auch wieder als positives Gesetz wahrgenommen werden, während sie derzeit immer mehr Kritik einstecken muss. Und darunter leidet die Schulpflicht am stärksten. Sie wird nicht mehr als Bildungsgarant wahrgenommen – manchmal sogar als Bedrohung. Und das bringt sie in Verruf und erschüttert das Vertrauen in den Rechtsstaat bei vielen.

Neben dem Leitfaden haben wir mittlerweile einen Sozialisationsflyer entwickelt (mit allen bedeutenden Studien zum Thema Sozialisation ohne Schule), eine Postkarte und das Interview zu einer der bedeutendsten Studien zu dem Thema (von Sandra Martin-Chang et al.) – dieses haben wir komplett ins Deutsche synchronisiert.

All dies soll unseren Mitgliedern helfen schnell Antworten auf die häufigsten Fragen geben zu können: also Sozialisation, Bildung, Abschluss. So sagt unsere Postkarte z. B. dass es eben doch möglich ist ohne Schulbesuch das Abi zu machen – und verweist auf eine Studie über akademische Leistungen von Schülern und schulfreien Kindern. So hat man anstatt endloser Diskussionen einfach Fakten zur Hand.

Vielleicht, wenn wir mal alle Meilensteine geschafft haben, wird schulfrei dann auch ein Hauptwort. Analog zu »Ich bin Schüler« – »Ich bin Schulfrei«. Ich schreibe es deswegen jetzt schon immer groß.

Wie viele Mitglieder hat der Verein?

Aktuell sind es ca. 320 Mitglieder. Was uns vor komplett neue Aufgaben stellt. Als wir noch unter 150 Mitglieder hatten, ließ sich die Beratung direkt bewerkstelligen, jetzt mit so vielen Mitgliedern müssen wir Umstellungen machen.

Es ist wie ein Same, der jetzt aufgegangen ist. Als nächstes reißt er den Straßenbelag auf, der ihn bedeckt hat. An dieser Schwelle sind wir jetzt und das Wissen muss besser verteilt werden, Mitglieder schneller integriert werden.

Das Ziel ist immer noch groß angelegte Aufklärungskampagnen durchzuführen. Bis dahin gilt es uns gegenseitig zu helfen und stärker zu werden.

In welcher Form können Interessierte Sie unterstützen?

Mitglied werden ist schon mal ein erster und sehr wichtiger Schritt. Je früher man einsteigt, desto größer ist der Unterschied den man als Einzelner macht. Wenn heute jemand Mitglied beim ADAC oder ProVeg wird, macht das keinen großen Unterschied mehr. Aber die ersten 500 Mitglieder, die haben dafür gesorgt, dass es diese beiden Vereine heute überhaupt gibt.

Wer sich darüber hinaus einbringen will, sollte den Verein erst mal eine Zeit von innen anschauen und kennenlernen, das ist total wichtig. Und dann seine Vorschläge oder Kraft einbringen und dranbleiben. Es selbst umsetzen oder ein Team, das mitmachen will, sammeln. Den Nutzen seines Projekts für den Verein und die Sache selbst dem Vorstand erklären und ein Budget beantragen.

Es ist wie eine Familie, die innerhalb von zwei Jahren auf über 300 Mitglieder angewachsen ist. Da ich noch eine ziemlich zentrale Rolle spiele, muss ich da auch erst reinwachsen und mein Zeitmanagement und Antwortzeiten besser hinkriegen.

Aber im Gegenzug ist in dieser Anfangszeit auch der perfekte Moment um eigene Ideen maximal einzubringen.

Und welche Frage würden Sie gern mal gestellt bekommen?

Zum Beispiel: Warum wir Schulfrei Bewegung heißen? Zum einen geht es darum, dass Schulverweigerer heutzutage ein Stigma in unserer Gesellschaft ist. Dieses wollen wir positiv uminterpretieren. Die Weigerung ein Gebäude zu betreten ist kein Todesurteil für die eigene Zukunft, sondern es kann sogar eine großartige Chance sein. Es geht darum aus einer Opferhaltung herauszukommen. Zum nächsten ist Schulfrei neutral von pädagogischen Vorstellungen – natürlich sind sehr viele unserer Mitglieder reformpädagogisch angehaucht oder gehen sogar vom Recht auf Bildung aus. Aber auch konventionellere Bildungsarten sind vertreten. Man sollte hier einfach auf die Familie und insbesondere das Kind sehen, anstatt sich einem Dogma zu unterwerfen und sich zu zwingen etwas zu tun, was komplett daran vorbeigeht, was man richtig findet.

Und Bewegung heißt es, weil es an der Zeit ist wirklich etwas zu bewegen. Das 21. Jahrhundert bietet so viele neue Bildungsmöglichkeiten, dass wir hier vor einem Erdbeben in der Bildungslandschaft stehen. Bald wird Bildung individuell konfigurierbar sein und jedem wirklich eine persönliche Entfaltung gewähren können, wie wir es heute nur schon erahnen. Dies ist ein gewaltiges Erdbeben. Wie viel von den Schulgebäuden, die wir heute als die Norm sehen, da noch stehen bleibt ist eine Frage, die wir erst an diesem neuen Horizont auftauchen sehen.

Herzlichen Dank für das Gespräch sr

Schulfrei Bewegung e. V.

Gründung: 2016

Sitz: Rheinstetten

Aktuelle Mitgliederzahl: 320

Aktionsraum: Deutschland

Kontakt: mitgliedschaft@schulfrei-bewegung.de

Website: www.schulfrei-bewegung.de

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