Zu früh dran – Wenn das Leben überraschend schnell beginnt
Aktuell kommt jedes zehnte Kind zu früh auf die Welt. Die Gründe sind vielfältig. Die Folgen auch. Definitiv lässt sich aber sagen: Die vorschnelle Ankunft hat Auswirkungen. Auf Kind und Eltern …
Susanne Sommer
So wie die Kaiserschnittraten in den vergangenen Jahren in den Industrieländern immer weiter gestiegen sind, so sind auch steigende Frühgeburtenraten zu verzeichnen. Allein in Deutschland werden jedes Jahr etwa 60.000 Kinder zu früh geboren. Davon haben etwa 6.000 ein Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm und benötigen ab ihrem ersten Lebenstag hochspezialisierte Versorgung. In den vergangenen zehn Jahren stieg die Frühgeburtenrate in den westlichen Ländern sogar weiter an.
Als »Frühchen« werden Kinder bezeichnet, die vor Ablauf der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden. Heute können sogar Kinder überleben, die nach 24 Entwicklungswochen geboren werden und unter 1.000 Gramm Körpergewicht haben. Die Intensivmedizin schafft es, immer kleinere, unreifere Menschen am Leben zu erhalten. Doch bezahlen diese dafür einen Preis? Was genau bedeutet »überleben«? Ist es genug, die heikle Phase nach Verlassen des Mutterleibs zu überstehen? Reicht es, dass in weiterer Folge keine organischen Schäden diagnostiziert werden? Wie geht es diesen »im Kampf mit dem Tod« geborenen Menschen? Wie entwickeln sie sich? Ursprünglich völlig vernachlässigt, gibt es heute zahlreiche Studien und immer neuere Erkenntnisse über die Auswirkungen auf Seele und Verhalten frühgeborener Kinder.
Und sie fechten einen schweren Kampf …
Auch wenn sich nichts verallgemeinern lässt: »Späte Frühchen« haben gewiss bessere Entwicklungsbedingungen als »frühe Frühchen«. Jede Woche, ja jeder Tag im Mutterleib ist von entscheidender Bedeutung. Im Mutterleib finden zum Beispiel im Gehirn wertvolle und wichtige Differenzierungsprozesse statt, die extrauterin in dieser Art und Weise nicht möglich sind. Frühchen müssen diesen heilen Schutzort frühzeitig aufgeben. Die Psychoanalytikerin Agathe Israel schreibt in ihrem einfühlsamen Buch »Früh in der Welt«: »Das Leben der Frühgeborenen begann mit einem Riss, besser gesagt Abriss, der nie wieder gänzlich zu reparieren ist, der ihre Person prägt. Mit der Geburt verlässt jedes Kind das mütterliche Kontinuum und muss von nun an die inneren und äußeren Diskontinuitäten meistern und Anderen mitteilen: einatmen – ausatmen, hungrig sein – saugen – satt sein, alleine sein – beisammen sein, Wärme – Kälte usw. Aber Frühgeborene haben das Kontinuum der mütterlichen Welt zu früh verloren und sind trotz aller Fürsorge weitestgehend auf sich allein gestellt. […] Wir können die katastrophischen Zustände, in die sie das Versagen ihres Körpers führt, die Todesängste, die aus dem unerbittlichen Riss, aus der Einsamkeit und aus dem Kampf ums Überleben entstehen, nur erahnen.«
Diese Kinder müssen einen großen Teil der Entwicklung, der noch im Mutterleib stattfinden sollte, bereits in der »richtigen« Welt durchlaufen. Dass es da Unterschiede gibt, steht außer Frage. Zum Beispiel findet im achten Schwangerschaftsmonat eine starke Differenzierung der weißen Hirnsubstanz statt, jenem Teil des zentralen Nervensystems, in dem der Informationsaustausch zwischen den Hirnregionen stattfindet. Wissenschaftler der Washington University in St. Louis haben Hirnaufnahmen von Neugeborenen und Frühgeborenen verglichen. Es zeigten sich deutliche Unterschiede in eben dieser weißen Substanz. Betroffen waren Areale für Aufmerksamkeit, Kommunikation und Emotionen. Frühgeborene Kinder kommen extrem »reizoffen« zur Welt, da der Prozess der Differenzierung der Nervenzellen nicht abgeschlossen werden konnte. Dadurch lässt sich erklären, dass viele Frühgeborene – auch wenn sie älter sind – sehr empfindlich auf Reize reagieren, seien es Geräusche, Lichtverhältnisse oder Hautwahrnehmungen. Nachholen lässt sich die versäumte Entwicklung im Mutterleib nicht mehr. Nur mehr »ausbessern«. Agathe Israel dazu: »Die Amygdala, eine hirnanatomische Region, in der sich frühestes psychisches Erleben bündelt, ‚vergisst nie’. Das bedeutet, man kann einmal aufgenommene Erfahrungen, die sich in neuronalen Verschaltungen niederschlagen, nie mehr löschen. Aber es können glücklicherweise neue Verschaltungen hinzukommen, die die alten im Ergebnis mildern oder relativieren.«
Während manche der späten Frühchen fit genug sind, um nach dem Geburtsschock bei der Mutter bleiben zu können, ereilt die meisten frühgeborenen Kinder ein anderes Schicksal: Sie brauchen intensivmedizinische Betreuung. Und das bedeutet: Sie sind einer Welt ausgesetzt, die so gar nicht ihren natürlichen Erwartungen entspricht. Sie selbst sind »nicht fertig«; ihre Organe funktionieren noch nicht, wobei am stärksten meist die Atmung betroffen ist. Zahlreiche Untersuchungen, Operationen stehen an. Doch sind sie vor allem mit einer überwältigenden Tatsache konfrontiert: mit der Trennung von der Mutter. Mittlerweile konnte umfassend nachgewiesen werden, dass einen Säugling so in Angst und Stress versetzt wie der plötzliche Verlust der Mutter. Gemeint sind Trennungen oder lange Abwesenheiten der Mutter; also Umstände, denen jedes frühgeborene Kind ausgesetzt ist. Das ist traumatisch. Allerdings nicht nur für das Kind …
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