»Sinn-voll lernen«: Wie Lernen funktioniert, ist wissenschaftlich besser erforscht, als wir glauben (sollen)
Aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive ist Lernen eine hochpersönliche, autonome und kreative Tätigkeit, um die der Mensch nicht herumkommt, wenn man ihn nur lässt. Die wertfreie Betrachtung von Fehlern war der Ausgangspunkt für Forschungen, die zu radikal neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen darüber führten, wie der Mensch lernt.
Marie-Sophie Frei
Wenn im Alltag über den Sinn und Unsinn von Schule, Lernmethoden und Lerninhalten diskutiert wird, dann haben die meisten Zeitgenossen etwas dazu zu sagen – verbrachten doch fast alle Menschen – zumindest in Deutschland – durch die seit 1938 geltende Schulanwesenheitspflicht den Großteil ihrer Kinder- und Jugendzeit in institutionellen Bildungseinrichtungen. Je nachdem, welche Erfahrungen die Einzelnen dabei machen durften oder mussten, fallen die Erinnerungen daran eher schwer oder leicht und werden entweder romantisiert oder realistisch dargestellt. Diejenigen, die am meisten unter dem Schulsystem gelitten haben, sind dabei oft diejenigen, die am vehementesten auf der Aufrechterhaltung des Status quo beharren und jüngeren Generationen grundlegende Veränderungen am wenigsten zugestehen wollen. Es gibt jedoch auch Menschen, die sich und anderen eingestehen können, sie hätten leichter und nachhaltiger gelernt, hätten sie sich am Lernort wohlgefühlt und freiwillig aufgehalten und sich mit Inhalten beschäftigen können, die inhaltlich, methodisch und vom Lernzeitpunkt her passend gewesen wären. Diese Wahrnehmung ihrer eigenen Lernprozesse ist kein antiautoritäres Hirngespinst und unterliegt keiner Weltanschauung. Sie reflektiert im Grunde genau das, was die unterschiedlichen Kognitionswissenschaften seit den 1960er Jahren fortdauernd erforschen und beweisen: Lernen ist eine hochgradig persönliche, individuell durchzuführende, autonome und kreative Tätigkeit, die die Lernenden und nicht die Lehrenden in den Mittelpunkt stellen muss.
Die Kognitionswissenschaften beschäftigen sich mit menschlichen Denk-, Erkenntnis- und Verstehensprozessen, also mit all dem, was mit menschlicher Informationsverarbeitung im Gehirn zu tun hat. Zu ihren Teildisziplinen gehören die Psychologie, die Hirnforschung bzw. Neurobiologie, die erkenntnistheoretisch arbeitende Wahrnehmungsphilosophie und schließlich die kognitive Linguistik, die sich mit Forschungsgegenständen, wie Wahrnehmung, Verständnis und Informationsverarbeitung im Gehirn durch Sprache beschäftigt. Historisch betrachtet, war die Erforschung des Lernens im Allgemeinen schon immer eng an Beobachtungen und Einsichten über das Erlernen von Sprache(n) geknüpft. Damit verbunden sind daher Fragestellungen, was Sprache eigentlich ist, sowie die Betrachtung dessen, was man kann oder können muss, wenn man eine Sprache beherrscht, und was dazu führt, dass man sie lernen will.
Strukturalismus und Behaviorismus: Lernen von Strukturen durch Konditionierung
Um den Paradigmenwechsel in der Erkenntnis, was Lernen eigentlich ist, in seiner fundamentalen Tragweite zu verstehen, ist eine Darlegung dessen, was man vorher für Lernen gehalten hatte, unabdingbar. Im linguistischen Strukturalismus, der Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschte, wurde Sprache als Struktur bzw. als System betrachtet. Demnach bedeutete das Erlernen einer Sprache das Beherrschen der phonetischen, morphologischen und syntaktischen Strukturen einer Sprache. Der größte einzelne Forschungsgegenstand war der (zusammenhangslose) Satz als syntaktische Einheit. Wenn dieser gut gelang, dann war alles gut. Während die Analyse von linguistischen Segmenten der wissenschaftlichen Beschreibung von Sprache durchaus dienlich war, spielten die praktische Sprachanwendung, sprachliche Sinnzusammenhänge, Textverständnis und Kommunikation noch keine Rolle. Auch in nichtsprachlichen Bereichen, landläufig »Fächer« genannt, sollten Lernende gezielt einzelne, zusammenhangslose Elemente, Strukturen und Ausschnitte beherrschen, deren Sinnhaftigkeit sich bestenfalls zu einem späteren Zeitpunkt im Gesamtzusammenhang erweisen würde.
Die verhaltenspsychologische Theorie, die das Lernverhalten bei Mensch und Tier im Zeitalter des Strukturalismus unterfütterte, war der Behaviorismus. Nach behavioristischer Auffassung ist Lernen die adäquate und vorhersehbare äußere Reaktion ( response ) auf einen zuvor zielgerichtet gesetzten verstärkenden oder abschwächenden Reiz ( stimulus ). Lernen ist demnach Verhaltensänderung und keine kognitive Tätigkeit. Sowohl der Strukturalismus als auch der Behaviorismus erfuhren ihre Blüte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, in der die Industrialisierung und die Technikgläubigkeit ihren Boom erlebten. Das Lernen wurde als quasi-automatisierte, fantasielose Reproduktion von Wissen betrachtet: Auf einen bestimmten, möglichst fehlerfreien Input wurde ein identischer, absolut vorhersehbarer, fehlerfreier Output erwartet. Alle Aufmerksamkeit im Lernprozess galt daher den Lehrern und Lehrerinnen, die den Schülern diesen möglichst perfekten Input liefern sollten. Pattern Drills, also das häufige Wiederholen und Üben von Strukturen, waren und sind methodische Elemente der behavioristischen Lerntheorie.
Fehler sind unter diesen Bedingungen zu vermeiden, denn sie sind das unerwünschte, messbare äußere Zeichen, dass die Reproduktion nicht funktioniert. Nach behavioristischer Überzeugung galt (und gilt leider häufig immer noch), dass durch entsprechende Sanktionierung von Fehlern, also durch Tadel, schlechte Benotung und Beschämung einerseits oder durch Belohnung, Lob und gute Noten andererseits, Reize gesetzt werden, die das weitere Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler unmittelbar steuern und kontrollieren können. Diejenigen, die über negative wie positive Sanktionen zu entscheiden hatten, waren die Lehrer. Sie hatten das Machtmonopol in der Klasse; so wie es draußen im restlichen Leben ebenfalls Personen gab, die über andere Personen urteilen und diese bestrafen konnten. Die Rolle der Lernenden hatte nach behavioristischem Lernverständnis hingegen absoluten Objekt charakter. Was in ihrem Gehirn, in ihrem Gemüt und ihrer Seele vor sich ging, war irrelevant, da der Behaviorismus die Introspektion aufgrund der mangelnden Messbarkeit als unwissenschaftlich betrachtete. Die Rolle der Lernenden war im Grunde die von Papageien, die zuvor Gesagtes fehlerlos imitieren und nachsprechen sollten.
Die kognitive Wende führt zum Paradigmenwechsel
In den 1950er Jahren übte Noam Chomsky, der wohl bekannteste und revolutionärste Linguist der Gegenwart, scharfe Kritik an dem bis dahin vorherrschenden Strukturalismus und an der damit verbundenen Lerntheorie des Behaviorismus. Er stellte die Frage, wie es denn sein könnte, dass kleine Kinder überhaupt jemals eine Sprache lernen können, wenn es auf absolut perfekten Sprachinput ankäme. Menschen machen in der konkreten Sprachanwendung eigentlich fast ständig sprachliche Fehler, ändern angefangene Sätze, stammeln, stottern, schweifen ab, benutzen grammatikalisch falsche Formen, wenn sie unkonzentriert, verliebt, nervös oder müde sind. Nach behavioristischer Lerntheorie basieren erfolgreiche Lernprozesse allein auf fehlerfreiem Input. Doch dann würden Kinder niemals in der Lage sein, trotz der vielen falschen Sprachdaten, denen sie pausenlos ausgesetzt sind, eine Sprache richtig zu lernen.
Chomsky folgerte daraus, dass sich im Kopf des Menschen etwas befinden müsse, das nicht nach behavioristischen Lernmethoden, also nicht verhaltensorientiert und nicht imitierend, funktioniert. Er nannte das das Human Language Acquisition Device , das menschliche Spracherwerbinstrument bzw. Sprachlerninstrument. Er formulierte die These, dass die Fähigkeit des Menschen, eine oder auch mehrere Sprachen zu lernen, eine ihm angeborene Kompetenz sei. Diese Kompetenz basiere darauf, dass das menschliche Gehirn, gerade auch das Gehirn von kleinen Kindern, in der Lage sei, aus all dem falschen Sprachinput, durch selbstständiges Nachdenken , nicht durch Imitation, das richtige rauszufiltrieren und zu lernen. Das Kind lernt die sprachlichen Regeln autonom und aktiv, also ohne die Notwendigkeit, ihm Grammatikregeln einbläuen zu müssen. Diese Erkenntnis war revolutionär.
Die darauf fußende zweite Erkenntnis war gleichfalls revolutionär, denn sie widerspricht der behavioristischen Theorie, dass erfolgreiches Lernen in der erfolgreichen Imitation von zuvor Gesagtem, Gehörtem und Beobachtetem zu sehen ist: Durch die durch eigenes Nachdenken erworbene Kenntnis einer begrenzten Anzahl von Sprachregeln kann ein Mensch eine unendlich große Anzahl sprachlich richtig strukturierter Sätze bilden, sogar solche, die noch nie zuvor gesagt worden waren.
Die kognitionswissenschaftliche Perspektive auf das Lernen
Chomskys Erkenntnisse über das kindliche Sprachenlernen brachten die Kognitionswissenschaften zusammen. In den kognitionswissenschaftlichen Disziplinen wurde voneinander unabhängig festgestellt, dass beim Lernen das Gehirn und nicht das Verhalten aktiviert werden muss. Außerdem wurde bestätigt, dass Wahrnehmung, Verständnis und Informationsverarbeitung bei jedem Einzelnen selbstständig und in Abhängigkeit von individuellem Vorwissen und Erfahrungen durchgeführt werden muss.
In der Psychologie konnte Ulric Neisser bereits 1967 explizit nachweisen, dass auch die visuelle Wahrnehmung des Menschen nicht unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt stattfindet, sondern vom bestehenden Wissen und der Erfahrung des Informationsverarbeiters beeinflusst wird. In der kognitiven Psycholinguistik brachten Eleanor Roschs Forschungen zur Prototypentheorie in den 1970er Jahren zutage, dass es innerhalb einer Kategorie Repräsentanten gibt, die von einzelnen S prechern für mehr oder weniger typisch akzeptiert werden.
Meine eigenen wissenschaftlichen Forschungen zur Prototypentheorie mit Muttersprachlern des Deutschen, des Britisch-Englischen, des US-Englischen und des Ghana-Englischen führten zum Ergebnis, dass die Wahrnehmung und dadurch die Bedeutung sprachlicher Begriffe und Kategorien hochgradig abhängig sind von der geografischen Herkunft und der Kultur, dem Alter, dem Geschlecht, der sozio-ökonomischen Situation und schließlich von der Sprache an sich. Die Realität ist ein Kontinuum, und die Bereiche, die daraus entnommen und sprachlich besetzt werden, variieren von Sprache zu Sprache und sogar innerhalb einer Sprache von Sprecher zu Sprecher.
Der Farbverlauf des Regenbogens ist ein Beispiel für dieses Kontinuum. Es gibt Sprachgemeinschaften, die nur die Unterscheidung zwischen hellen und dunklen Farben kennen und deshalb nur zwei Farbbegriffe aufweisen: schwarz und weiß. Die russische Sprache hingegen nimmt das, was im Deutschen mit hellBLAU und dunkelBLAU derselben Sprachkategorie BLAU zugeordnet wird, als grundsätzlich unterschiedliche Farben wahr und hat dafür gänzlich unterschiedliche, von einander unabhängige sprachliche Lexeme: goluboi entspricht hellblau, sinii dunkelblau. Im Englischen wird zwischen PINK und ROT differenziert, deshalb ist PINK keine Variante von ROT, also nicht hellROT. Im Deutschen gibt es hingegen die Farbe rosaROT, die semantisch der Kategorie ROT zugeordnet wird .
Die Grenzen sprachlicher Begriffe und Kategorien sind somit hochgradig willkürlich festgelegt. Jeder, der sich schon einmal mit jemand anderem über die richtige Farbenbezeichnung gestritten hat, weiß, dass nicht allein die Sprache, sondern auch die individuelle Wahrnehmung die Bedeutung und Grenzen von Kategorien definiert. Je mehr Bewusstsein, je mehr Vorwissen und je mehr sprachliche Begrifflichkeiten für einzelne Elemente dieses Vorwissens zur Verfügung stehen, desto differenzierter ist die Wahrnehmung, auf der die Informationsverarbeitung im Gehirn beruht.
Das Prinzip des Lernens auf Basis von bereits existierendem Wissen wird transparent, wenn Kinder ihre Muttersprache lernen. Das Verstehen neuer Wörter und die Erweiterung ihres Vokabulars vollziehen sich absolut und notwendigerweise auf der Basis bislang bekannter Wörter. Ist zum Beispiel der Wochentag Dienstag als Teil des mentalen Sprachlexikons bereits bekannt, dann verstehen Kinder zunächst ValenDienstag, statt Valentinstag und können meinen, die Mama nehme sie auf den Arm, wenn diese behauptet, der ValenDienstag sei am Mittwoch. Wenn das Kind den Begriff Marzipan schon gut und gerne in Kopf und Mund hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass Japaner zunächst als Marzipaner verstanden werden, logisch und nachvollziehbar. Auch ältere Menschen können nicht anders, als neue Phänomene auf Basis ihres individuellen Vorwissens wahrzunehmen. Die Fledermaus hat biologisch nichts mit der Gattung der Mäuse (murinae) zu tun. Sie erinnerten die Menschen jedoch aufgrund ihres Aussehens an Mäuse, sodass die Sprecher und Sprecherinnen ihr bereits existierendes Konzept von Mäusen sprachlich auf Fledermäuse ausdehnten. Im Englischen hat man dies hingegen nicht gemacht, weshalb die Gattung nicht fluttering mouse, sondern bat heißt.

Das Konzept »Haus« ist abhängig von Kultur, Sprache und Alter und daher sehr verschieden.
Auch in nicht-sprachlichen Bereichen können Wahrnehmungs- und Lernprozesse nicht unabhängig von Vorwissen und Erfahrungen ablaufen. Wenn ein Förster oder Biologe durch den Wald geht, dann nimmt er, in Abhängigkeit seines Vorwissens, viel mehr und ganz andere Dinge wahr als ein Laie, der nicht viel mehr als Bäume und Büsche sieht. Ebenso ist es, wenn ein Laie unter die Motorhaube eines Autos schaut. Während viele Menschen schon froh sind, wenn sie den Motor als solchen wahrnehmen, sehen Spezialisten jede Menge mehr, in Abhängigkeit ihres Vorwissens, ihrer Erfahrung und ihrer sprachlichen Konzepte, mit denen sie »ein Ding« von anderen »Dingen« differenzieren können.
Vom Input zum »Intake«
In der Tat belegen die Forschungen in sämtlichen Kognitionswissenschaften, dass Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und daraus resultierende Erkenntnisse, also auch das Lernen, grundsätzlich nicht unabhängig vom jeweiligen Vorwissen und den Erfahrungen eines Individuums existieren können. Das Vorwissen und die Erfahrung sind bei jedem Menschen individuell anders, weshalb die Interaktion neuer Wissenselemente mit dem bereits vorhandenen Wissensbestand notwendigerweise bei jedem Lernenden anders ist. Es wurde bewiesen, dass Lernen eine aktive und kreative Tätigkeit ist, die der einzelne Mensch, jung wie alt, selbst und eigenständig bewältigen muss. Aktives Lernen kann von außen gar nicht so maßgeblich beeinflusst werden, weil das Individuum in seinen innergeistigen Funktionen autonom ist. Ein zu verarbeitendes Wissenselement muss vom Einzelnen überhaupt erst individuell wahrgenommen werden, bevor es von ihm oder ihr zum individuellen Intake gemacht wird. Im jeweiligen Gehirn treten neue Informationen mit bereits vorhandenen Wissensbeständen in Interaktion und werden durch neuronale Vernetzungen aktiv und kreativ in das vorhandene neuronale Geflecht integriert. Diese Wissenskonstruktions- und -integrationsprozesse müssen höchstpersönlich durchgeführt werden. Dies kann man dem Einzelnen von außen nicht abnehmen. Die Rolle der Lernenden bekam auf der Basis des kognitionswissenschaftlichen Verständnisses vom Lernen endlich Subjekt charakter.
Die philosophische Wahrnehmungs- und Verstehenstheorie des Konstruktivismus, der auf kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen fußt und die lerntheoretische Grundlage der Lernerautonomie darstellt, fordert, dass die Lernenden, nicht die Lehrenden, endlich im Mittelpunkt aller Lernbemühungen stehen müssen. Lernerzentriertheit und Lernerautonomie sind Schlagwörter geworden, die nach Meinung der Konstruktivisten unbedingt umgesetzt werden müssen, um den kognitiven Fähigkeiten des Menschen gerecht zu werden. Dies markierte einen grundlegenden Paradigmenwechsel, der revolutionärer nicht sein konnte und in fast alle wissenschaftlichen Disziplinen ausstrahlte. Daran hing nicht allein ein völlig neues Verständnis darüber, wie der Mensch lernt, wahrnimmt und versteht, sondern auch, zu was der Mensch selbstständig in der Lage ist. Dadurch bekam der Paradigmenwechsel höchste politische Brisanz.
Ein Paradigma ist ein wissenschaftliches Weltbild, ein theoretisch allgemein anerkannter Rahmen, in dem bereits existierendes Wissen und auch philosophische Grundannahmen vorherrschen und innerhalb dessen Forschung betrieben wird. Dieser Rahmen ist relativ fix und wird nicht fortdauernd hinterfragt. Deshalb haben es Erkenntnisse, die nicht in den bereits existierenden Rahmen passen, auch ganz besonders schwer, anerkannt zu werden. Ein herausragendes Beispiel für einen Paradigmenwechsel war der Wechsel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild. An die Vorstellung, dass die Erde und somit der Mensch im Mittelpunkt des Universums stehen und dass sich alles andere um sie dreht, waren ganze Wahrnehmungen, Identitäten und Machtansprüche geknüpft. Etablierte Gelehrte wie kirchliche Oberhäupter versuchten mit aller Macht, am alten geozentrischen Weltbild festzuhalten. Es war deshalb für Forscher, deren Erkenntnisse sich mit dem etablierten Paradigma nicht länger vereinbaren ließen, außerordentlich schwierig und zuweilen mehr als ungesund, für ihre wissenschaftlichen Überzeugungen einzustehen. Sie wurden verfolgt und sollten ihre Erkenntnisse eher widerrufen, als dass das bereits etablierte Machtgefüge durcheinanderkam.
Wieso ist es so wichtig, in diesem Kontext darauf zu verweisen? Es ist deshalb wichtig, weil es neue wissenschaftliche Erkenntnisse immer dann schwer haben, Gehör und Akzeptanz zu finden, wenn sie Machtansprüche und politische Interessen in Gefahr bringen. Die Erkenntnisse aus den Kognitionswissenschaften brachten in der Tat nicht allein die Einsicht zutage, dass der Mensch Wissen zwangsläufig autonom, aktiv und kreativ auf der Basis seines individuellen Vorwissens und seiner vorherigen Erfahrungen erwerben und in seinen bereits vorhandenen Wissensspeicher integrieren muss, sondern demnach auch, dass er von seinen Anlagen her ein selbstständiges und autonomes Wesen ist, das nicht von äußerer Bevormundung abhängig ist.
Lernerautonomie
Für Professor Henri Holec, Expertenmitglied zur Erarbeitung des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen des Rates für kulturelle Zusammenarbeit des Europarates, bedeutet Lernerautonomie die Fähigkeit, »das eigene Lernen selbstverantwortlich in die Hand nehmen zu können. Dies erfordert, dass die Lerner in die Lage versetzt werden, Lernziele, Inhalte und Progression bestimmen zu können, die eigenen Lernmethoden und Techniken auswählen und diese sowie das Gelernte bewerten zu können.« Linguistin Ute Rampillon weist allerdings darauf hin, dass »Schülerinnen und Schüler, die autonom lernen wollen, […] die dazu notwendige ›Luft‹ zum Lernen [brauchen]. Sie brauchen den Freiraum, um selber zu entscheiden, ob, was, wann, wie, wozu sie lernen wollen«. Vor diesem Hintergrund ist jeder Lernende zugleich sein eigener Lehrer. Es ist tatsächlich geradezu inkompatibel mit den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über die zwangsläufige Autonomie des Lernens, dass eine andere Person als der Lernende selbst sich anmaßt, in den Lernprozess eingreifen zu wollen und zu können.
Dieter Wolff, Professor für anwendungsbezogene Sprachverarbeitung der Bergischen Universität Wuppertal, fordert auf der Grundlage der kognitionswissenschaftlichen Erkenntnisse, dass Lernumgebungen »authentisch [und] komplex im Sinne der realen Wirklichkeit« sein sollen, die es »Lernenden ermöglicht, ihre Wissens-Konstruktionsprozesse ausgehend von ihren individuellen, d. h. unterschiedlichen Wissensständen durchzuführen«. Lernumgebungen sollen so sein, dass »Lerninhalte in sie eingebettet werden können« und »das Gelernte in ihnen konkret gebraucht werden kann«. Denn, laut Wolff, beeinflusst dies den Lernprozess positiv.
Die kognitionswissenschaftliche Perspektive auf das autonome Lernen bedeutet allerdings nicht, dass Lernende in ihrem Lernprozess sich selbst überlassen bleiben sollen. Sie sollen von Lernbegleitern unterstützt werden, die wichtige Beraterfunktionen innehaben und in deren Verantwortung es liegt, den Lernenden günstige Voraussetzungen für einen selbstbestimmten Lernprozess mitzugeben. Das Vermitteln methodischer Kompetenzen und Lernstrategien bildet die grundlegende Basis für autonomes Handeln und Lernen. Doch sie sollen den einzelnen Lernenden in und zu ihrer Autonomie dienen und sie nicht dirigieren.
Selbstbestimmtes Lernen aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive
Vor kognitionswissenschaftlichem Hintergrund lernen junge Menschen, die sich selbstbestimmt, inhaltlich frei und individuell bilden, am natürlichsten, nachhaltigsten und erfolgreichsten. Ebenso wie sie den Erstspracherwerb aus eigenen sozialen Bedürfnissen als Teil ihres individuellen Entwicklungs- und Reifeprozesses ohne von außen festgesetztem Lehrplan vollzogen haben, lernen sie aus intrinsischer Motivation weiter. Sie lernen bezüglich Inhalte und Methoden absolut autonom, situations- und bedürfnisorientiert, aus eigenem Antrieb und aus ihrer angeborenen Neugierde heraus. Ihr individueller Reifegrad und Entwicklungsstand bestimmt, was für den Einzelnen wann »dran« ist.
Vom wertschätzenden Umgang mit Fehlern
Fehler werden in diesem Zusammenhang als Zeichen einer sich vollziehenden Entwicklung wertgeschätzt, nicht sanktioniert. Kinder durchlaufen in ihrem autonomen Erstspracherwerb beispielsweise regelmäßig Phasen der sogenannten Übergeneralisierung, die unmittelbar Rückschlüsse über ihr erworbenes Sprachregelbewusstsein erkennen lassen. Wenn ganz junge Sprecher und Sprecherinnen durch genaues Hinhören und Analysieren Regeln zur Bildung spezifischer grammatischer Formen erkannt haben, benutzen sie diese vorübergehend auch für andere Formen. Haben sie etwa die Regeln für die Partizipbildung schwacher Verben erkannt, bilden sie Sätze, wie »ich habe ein Bild gemalt« oder »du hast mit mir gespielt«. Diese Regeln verallgemeinern sie sodann und wenden sie eine ganze Zeit lang auch auf starke Verben an. Deshalb bilden sie Sätze wie »ich habe mein Brot geesst« oder »du hast mich geseht« – bis sie erkennen, dass es auch starke Verben gibt, deren Partizipien nicht analog zu den schwachen Verben gebildet werden. Gerade weil diese »Fehler« auftauchen, wird das kindliche Regelbewusstsein offenbar. Blieben diese aus, könnte es sein, dass junge Sprecher Sprache lediglich imitieren und sich noch gar kein eigenes Sprachregelbewusstsein entwickelt hat. »Fehler« sind deshalb nicht mehr, wie im behavioristischen Lernmodell, das zu vermeidende Symptom eines misslungenen Lernprozesses, sondern das geradezu notwendige Anzeichen eines sich vollziehenden Lernprozesses und von Entwicklung. Sie sind wertzuschätzen, denn sie bieten wertvolle Einsichten in die Gedankenwelt eines Menschen.
Ganzheitliches selbstbestimmtes Lernen
Der Lernraum von selbstbestimmt Lernenden ist die reale Welt und keine künstliche Blase wie die Schule. Die Lernimpulse und die Lernmotivation kommen, wie im späteren Erwachsenenleben auch, unmittelbar aus dem Alltag, den Wissensbedürfnissen und der individuellen Entwicklung der sich selbstbestimmt bildenden Menschen. Phänomene der äußeren und inneren Lebenswelt werden unmittelbar und in ihrer ganzen Komplexität erfahren und nicht durch künstliche Trennung an Fächer gebunden. Daher erfüllt selbstbestimmtes Lernen die Forderung nach komplexen Lernumgebungen und ganzheitlichem Lernen in Sinnzusammenhängen am vorzüglichsten. Autonomie bedeutet für selbstbestimmt sich Bildende auch, dass sie unter Bedingungen und mit Methoden, die persönlich am besten zu ihnen passen, lernen. Darüber hinaus bezieht sich ihre Selbstbestimmtheit nicht nur auf den Inhalt, mit dem sie sich beschäftigen wollen, sondern auch auf die Zeit, den Ort, das Lerntempo, die Lernbegleiter und den Grad der Perfektion.
Oftmals haben Freilerner das Bedürfnis, sich so lange und so intensiv mit einem selbst gewählten Themenbereich zu beschäftigen, bis sie selbst der Meinung sind, dass sie ihn voll und ganz erfasst haben. Es gibt tatsächlich den »Unterschied zwischen dem Lesen eines Buches, weil man erfahren will, was im nächsten Kapitel passiert, und dem Lesen eines Buches, weil einem dafür ein Aufkleber versprochen worden ist« (Alfie Kohn). In der Tat bringen es frei sich bildende Menschen jeden Alters oft zur Meisterschaft in einem oder auch mehreren Bereichen, weil sie nicht dann zum nächsten Thema eilen müssen, wenn sie gerade erst angefangen haben, Zusammenhänge zu verstehen. Durch den selbstbestimmten Lernprozess durchlaufen sie verschiedene Phasen des Wissenskonstruktionsprozesses und gelangen weit über die Verstehensphase hinaus zur sogenannten Anwendungs- und Automatisierungsphase, also der tiefen und dauerhaften Vertrautheit mit einem Themengebiet oder einer Fähigkeit. Erst wenn Lernende für das Gelernte ein Gefühl entwickelt haben, können sie so kreativ damit umgehen, dass sich unter Umständen neue und weitreichendere Fragestellungen daraus ergeben.
Die intrinsische Motivation, Kenntnisse und Fähigkeiten zu erlangen, fördert die Selbstevaluierung sowie die Reflexion des eigenen Lernprozesses und Lernfortschrittes. Diese Fähigkeit zur Selbstkritik begünstigt die Verantwortung für das eigene Lernen. Selbstreflexion bezüglich eigener Stärken und Schwächen führt darüber hinaus zu Persönlichkeitsbildung und zur Sicherheit bezüglich einzuschlagender beruflicher Tätigkeitsfelder junger Menschen. Ohne das Gefühl dafür, in welchen Bereichen eigene Stärken, Schwächen, Interessen und Talente liegen, fallen Studien-, Berufs- und Lebensentscheidungen oft schwer. Unzufriedenheit und Frustration bis zu Depressionen und Lebenskrisen können aus der »Taubheit« bezüglich der eigenen Fähigkeiten resultieren.
Freilerner stehen zudem in Beziehung mit Bezugspersonen, zu denen sie tatsächlich einen Bezug haben, die sie sich selbst aussuchen, weil sie gerne mit ihnen zusammen sind, und mit denen sie sich entwickeln wollen. Dies sind meistens die Eltern, es können aber auch Verwandte, Freunde, Nachbarn oder Fachleute sein. Mit und von wem sie lernen und ihr Gelerntes reflektieren wollen, das entscheiden selbstbestimmt Lernende selbst und aktiv – nicht passiv in der Objektrolle. Sie sind im permanenten persönlichen Austausch und haben den Überblick über ihre Lernprozesse. Natürlicher und nachhaltiger können Menschen aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive nicht lernen! Wenn man sie denn lässt. Denn mit der freien, autonomen Art des Lernens ist ein neues Menschenbild verbunden: Das Bild vom selbstständig denkenden Menschen, der sich von außen nicht konditionieren und objektivieren lässt. ■
Marie-Sophie Frei
ist Juristin, Amerikanistin und Sprachwissenschaftlerin. Sie interessiert sich für die Verflechtung von Religion und Politik sowie für autonome Lernprozesse. Im Moment arbeitet sie an einem Projekt zum kindlichen Erstspracherwerb und ist als wissenschaftliche Publizistin tätig. Vor allem aber ist sie Mama eines sechsjährigen Kindes.
Literatur
Henri Holec: Autonomy and foreign language learning. Pergamon, 1981. (Erstveröffentlichung im Jahre 1979, Strasbourg: Europarat)
Alfie Kohn: Liebe und Eigenständigkeit: Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung. Arbor, 2010.
Ulrich Neiser: Kognitive Psychologie. Klett, 1974.
Ute Rampillon: Auto nomes Lernen im Fremdsprachenunterricht – ein Widerspruch in sich oder eine neue Perspektive? In: Die Neueren Sprachen 93:5 (1994), 455-466.
Dieter Wolff: Der Konstruktivismus: Ein neues Paradigma in der Fremdsprachendidaktik ? In: Die Neueren Sprachen 93:5 (1994), 407-429 .