Carpe diem – Von den Chancen autonomer Zeitgestaltung in der Corona-Krise

Zeit ist kostbarer als Geld. Jeder Einzelne muss deshalb lernen, bewusst und nicht fremdbestimmt über seine Lebenszeit zu verfügen. Die »Corona-Krise« bietet die Gelegenheit zu einer selbstständigeren Zeiteinteilung, die grundlegende menschliche Bedürfnisse wertschätzt.

Marie-Sophie Frei

Viele Bundesbürger befanden sich aufgrund der Ausgangsbeschränkungen unter einem mehr oder weniger freiwilligen Corona-Hausarrest. Die Wohnung durfte nur aus klar definierten Gründen und unter Einhaltung der Kontaktregeln verlassen werden. Die Menschen hatten plötzlich Zeit, viel Zeit, über deren Mangel sie sich vor der Corona-Krise gerne kokett beschwert hatten. Wer ausgebucht war, galt für gefragt, für unverzichtbar oder führte ganz einfach einen hippen Lifestyle.

»Flow« als Resultat in einer selbstbestimmten Tätigkeit aufzugehen.

Während des S hutdown häuften sich allerdings Stimmen, die verlauten ließen, dass viele Daheimgebliebene mit ihrer nun frei zur Verfügung stehenden Zeit nicht wirklich etwas Sinnvolles anzufangen wussten. Waren freie Tage ansonsten umgehend mit Shopping, zum Verreisen oder mit anderen Konsumaktivitäten verdichtet worden, fiel der selbstgemachte Freizeitstress aufgrund des Stay-at-Home -Gebotes auch noch weg. Boutiquen, Schönheitsfarmen, Friseure, Fitness-Studios, Cafés und Restaurants blieben zum Leidwesen vieler Shopaholics geschlossen. Kann es sein, dass der bewusste Umgang mit der uns zur Verfügung stehenden Lebenszeit, dem Kostbarsten, das wir haben, uns so stresst, weil wir es schlichtweg nicht gewohnt sind, selbstbestimmt darüber zu verfügen? Fühlen sich selbst Kinder bereits damit überfordert, ihre kindergarten- und schulfreien Tage mit Freude am freien Spiel zu füllen und dadurch in ihrem eigenen Tempo am leichtesten und nachhaltigsten zu lernen? Warum stresst es Eltern so sehr, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen, und wieso sorgen sie sich darüber, dass ihr Kind nichts lernt, wenn es »nur« mit Neugier und Freude seinem Spieltrieb folgt und daher anscheinend »nichts« tut?

Fremdbestimmter Umgang mit Zeit von Anfang an

War es früher zumindest vielen Unter-Sechsjährigen noch vergönnt, ihre Tage vor dem Schuleintritt mit selbstbestimmtem Spielen sowie dem freudigen und neugierigen Erforschen ihrer Lebenswelt zu (er)füllen, sind heutzutage die meisten Kinder bereits in den allerersten Lebensjahren einer fremdbestimmten Zeitplanung unterworfen, die ihre frühkindlichen Bedürfnisse nach Schlaf, Nahrung, Sauberkeit, körperlicher Nähe, Spieltrieb und Beruhigung den Anforderungen der Erwachsenenwelt unterordnen. Schon Kindergartenkinder sind pädagogischen Animationsprogrammen unterworfen, die von außen bestimmen, was wann zu tun ist. Selbst wenn »freies Spiel« auf dem Stundenplan einer Fremdbetreuungsanstalt steht, können die Kleinen nicht selbst wählen, ob, wann und mit wem sie »frei« spielen wollen. Die Entscheidung darüber sowie der Zeitpunkt und die Spielkameraden dafür sind systembedingt vorgegeben.

Mit dem Eintritt in die Schule wird ein strenges äußeres Zeitregime von 45 Minuten vorgegeben. Schulkinder lernen, sich genau für den anberaumten Zeitraum bedingungslos für eine Materie zu interessieren, gegeneinander zu konkurrieren und um die Aufmerksamkeit der Lehrer zu buhlen. Doch bereits mit dem nächsten Läuten der Schulglocke wird erwartet, dass die Schüler blitzartig alle Lernprozesse im gerade stattfindenden Fach abbrechen und sich auf die nächste Schulstunde einstellen. Für die kommenden 45 Minuten wiederholen sich die Mechanismen und werden im Anschluss wiederum zwangsläufig abgebrochen. Ausdauer und anhaltende Konzentration auf eine zu bearbeitende Problematik werden systematisch und stetig unterbunden. Wie sollen Kinder es deshalb jemals lernen, eigene Ideen selbstständig zu entwickeln und ihre Konzepte umzusetzen, wenn sie sich selten länger als 45 oder 90 Minuten mit etwas beschäftigen durften?

Nach der Schule, mit der Aufnahme eines Studiums, einer Lehre und schließlich dem Eintritt ins Berufsleben, sind die meisten Menschen ohnehin in einen durch ihre Tätigkeit vorgegebenen Zeitplan eingebunden. Wenn sie jedoch am Wochenende, im Urlaub oder an Feiertagen frei über ihre Zeit verfügen können, wird diese Freizeit meist wiederum nicht dazu genutzt, sich bewusst zu erholen, sich persönlichen Beziehungen oder selbstbestimmten Projekten zu widmen. Stattdessen wird sie von vielen mit Einkaufen oder anderen Konsumaktivitäten gefüllt. Können wir tatsächlich nicht zufriedenstellend mit unserer freien Zeit umgehen, uns nicht mehr auf ein Buch, auf das Spiel mit unseren Kindern, auf das Zusammensein mit nahestehenden Menschen oder der Verwirklichung eigener, selbstbestimmter Projekte konzentrieren, weil wir es nie gelernt haben? Können wir im Grunde nichts mehr mit uns selbst anfangen und werden wir nervös, wenn wir im Außen keine fremd angebotenen Aktivitäten finden und damit Abwechslung und Ablenkung von uns selbst erfahren können? Sind wir so sehr darauf getrimmt, dass wir über das Kostbarste, das wir haben, unsere Lebenszeit, nicht mehr selbstbestimmt verfügen können, weil wir es nie durften?

Der Stillstand erzwingt eigenverantwortliche Zeit- und Lebensgestaltung

Der Stillstand des öffentlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens und der damit selbst zu gestaltenden Zeit warf und wirft uns in vielerlei Hinsicht auf uns selbst zurück. Wir können die »Krise« allerdings dazu nutzen, wieder ein Gespür für Vorgänge in ihrer zeitlichen Dimension zu bekommen. Da wir unsere Wohnungen nur nach Abwägungen der damit verbundenen Risiken verlassen können, dürfen wir uns daran machen, wieder mehr für uns selbst zu sorgen. Brot selbst zu backen, Gerichte aus Grundnahrungsmitteln selbst zu kochen, Kleidung zu schneidern oder Heimwerken gibt uns Eigenverantwortlichkeit für den Inhalt bzw. das Material sowie für die Herstellungsprozesse zurück. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft sehen wir von vielen Produktionsvorgängen häufig nur mehr Teil- oder Endprodukte. Somit sind wir nicht nur von den Prozessen entfremdet, sondern in zunehmendem Maße davon abhängig, dass andere für uns produzieren und liefern und wir diese Waren einkaufen können. Dabei bringt uns das völlige Aufgehen in einer selbstbestimmten Tätigkeit, jenseits von Stress, Angst und Langeweile, bei voller Konzentration das Gefühl des vollen Einklangs mit der Welt und mit uns selbst. »Flow« nennt sich dieser Zustand absoluter Vertiefung unter Aufhebung jeglichen Zeitempfindens. Die mit Freude ausgeübte Tätigkeit bedarf, wie beim (Liebes-)Spiel, keiner Bestätigung und keines Lobes als Motivation. Spielerisches Tun ist Freude am Tun. Es gehört zu den elementarsten Menschheitserfahrungen, wie es bereits der deutsche Dichter Friedrich Schiller ausgedrückt hatte: »Der Mensch spielt nur, wo er in vollster Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Durch die Ausschüttung von Glückshormonen kann der selbstbestimmt agierende Mensch bei körperlichen und geistigen Arbeiten sowie auch in sozialen Interaktionssituationen mit geschätzten Menschen scheinbar mühelos an seine Leistungsgrenzen gehen. Dabei lernt er nicht nur die Materie oder die Themen, mit denen er sich beschäftigt, kinderleicht. Im Zustand des völligen Aufgehens mit einer geliebten Tätigkeit lernt der Mensch sich selbst, seine zu ihm gehörigen Talente und Neigungen in unterschiedlichen Ebenen sowie seine Leistungsfähigkeit am besten kennen. Deshalb führt das freie Spiel aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive zu den nachhaltigsten Lern- und Selbsterfahrungen.

Schulfrei gibt Raum für ganzheitliche Bildung

Eltern, die sich in diesen Tagen durch die Schulschließungen mit der Bildung ihrer Kinder auseinandersetzen und diese mitorganisieren müssen, machen sich dennoch oft Sorgen, dass ihre Sprösslinge den Lehrplan nicht optimal erfassen und nicht genug lernen. Diesen Eltern soll gesagt sein, dass, bei aller Wichtigkeit von Bildung, ihre Kinder weder zu Analphabeten werden, noch den Anschluss an das Bildungssystem verlieren, noch sich sogar zurückentwickeln, wenn sie sich nicht den ganzen Tag mit ihren Schulbüchern beschäftigen. Auch Kinder sollen in dieser Zeit die Gelegenheit zur Reflexion bekommen und der Frage nachgehen, was in ihrem Leben wirklich wichtig ist und was sie ernsthaft interessiert. Was macht sie glücklich, wenn sie selbst für ihr Glück verantwortlich sind, da sie es sich gerade nicht kaufen können? Was sind die kleinen Perlen, die das Leben lebenswert machen? Kinder lernen zudem nicht nur durch das Auswendiglernen des »Schulstoffs« für das Leben, sondern vor allem durch den Umgang mit Familienmitgliedern. Wie kann man es schaffen, respektvoll miteinander umzugehen, sich gegenseitig zuzuhören, selbst wenn Frust aufkommt? Die schulfreien Tage bieten die Gelegenheit, Kinder in die Tagesplanung mit einzubeziehen sowie sie in außerschulische Projekte einzubinden und darauf zu vertrauen, dass sie pausenlos lernen und sich entwickeln, selbst wenn es gerade nicht danach aussieht. Eine erfolgreiche und glückliche berufliche Zukunft hängt überdies weniger von der messbaren Leistung, Noten und Abschlüssen ab, sondern in besonderem Maße von der richtigen Wahl des Berufes. Junge Menschen, die sich selbst kennen und wissen, wo ihre Stärken und Fähigkeiten liegen, gehen ihren Weg erfolgreich, selbstverantwortlich und mit Freude. Bringen wir ihnen Vertrauen in ihr Entwicklungspotential entgegen, erlangen sie das Selbstvertrauen, das sie zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit und zum Gelingen ihres Lebens brauchen.

Von Lerchen, Eulen und Goldammern – und ihren chronobiologischen Bedürfnissen

Doch selbst dann, wenn sich Eltern und Kinder ernsthaft im Homeoffice oder im Homeschooling befinden, bietet sich in vielen Fällen die Möglichkeit einer autonomeren Tagesplanung. Arbeiten und Lerntätigkeiten zu einem Zeitpunkt zu erledigen, der chronobiologisch am besten zum ausführenden Individuum passt, steigert deren Effizienz und minimiert die aufzuwendende Mühe oft enorm. Der Begriff »Chronobiologie« setzt sich aus den beiden griechischen Wörtern chronos (Zeit) und bio (Leben) zusammen. Demgemäß befasst sich dieser Forschungsbereich mit der zeitlichen Organisation von physiologischen Vorgängen und wiederkehrenden Verhaltensmustern bei Organismen. Einflüsse des Tag-Nacht-Rhythmus, also von Licht, Dunkelheit und Schlaf, sowie die verschiedenen Jahreszeiten haben unmittelbare Aus- und Einwirkungen auf Zellen von Menschen, Tieren und Pflanzen. Einschlafen, Aufwachen, Appetitverhalten, Leistungshoch und Leistungstief, Winterdepression und Frühjahrsmüdigkeit basieren allesamt auf Taktgebern durch die innere biologische Uhr, die ernstgenommen werden will. Es gibt im Prinzip keine Körperfunktionen, die nicht rhythmisch ablaufen: der Herzschlag, die Zellteilung und viele Stoffwechselvorgänge. Vor allem die Hormongenese von Melatonin, Wachstums-, Schilddrüsen- und Sexualhormonen sind an individuelle Zeiten im Körper gebunden. Dabei tickt die innere Uhr bei jedem Menschen anders, was einerseits den Unsinn einer universellen Kernarbeitszeit für alle Chronotypen aufzeigt, andererseits die Vorteile einer autonomen und individuellen Zeitplanung offensichtlich macht – und somit die Corona-Krise zur Chance werden lässt. Denn gerade jetzt bietet sich die Gelegenheit zu einem selbstständiger organisierten Leben, jenseits von vorgegebenen Stempelzeiten und Stundenplänen, das viel besser zum Einzelwesen passt und viele Menschen sogar leistungsfähiger sein lässt.

Die Wissenschaft unterscheidet grob zwischen drei grundsätzlich unterschiedlichen Chronotypen, also Kategorien von Menschen, deren biologische Uhr sie zu unterschiedlichen Leistungsvermögen zu unterschiedlichen Tageszeiten befähigt: Lerchen, Eulen und Goldammern. Während Erstere morgens gutgelaunt und ausgeschlafen aus dem Bett hüpfen und am Abend gerne mit den Hühnern zu Bett gehen, werden Eulen erst am Abend oder in der Nacht so richtig lebendig, halten bis zum Morgengrauen durch und schlafen morgens dafür ausgiebiger. Die Goldammern singen ihr Lied hingegen, wenn die Lerchen bereits verstummt, der Ruf der Eulen aber noch nicht ertönt ist: am Nachmittag und frühen Abend. Der Chronotyp eines Menschen ist im Prinzip genetisch vorherbestimmt, er kann sich aber mit dem Alter verändern. Gerade Jugendliche vollziehen oft eine Wandlung von der Lerche zur Eule, was frühe Schulstunden nicht nur mühsam, sondern sogar völlig wirkungslos macht. Da das Diktat der Schul- und Arbeitswelt für Morgenmenschen konzipiert ist, müssen viele Menschen völlig entgegen den natürlichen Bedürfnissen ihres Chronotyps leben. Alleine deshalb erreichen viele junge und ältere Menschen zu normalen Schul- und Geschäftszeiten grundsätzlich niemals ihr individuelles Leistungshoch und können deshalb auch ihr soziales Potential im Umgang mit Schulfreunden und Arbeitskollegen nie so richtig entfalten.

Das Phänomen, wenn die »innere« Uhr der »äußeren« Uhr entgegen läuft, benennt Chronobiologe Till Roenneberg »sozialer Jetlag«. Auch Prof. Dr. Horst-Werner Korf, Leiter des Institut für Chronomedizin an der medizinischen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt, spricht vom »sozialen Jetlag«, der darauf gegründet ist, dass unsere Schul- und Arbeitswelt immer noch wie in der bäuerlichen Gesellschaft organisiert ist. Bauern mussten und müssen zur Bewältigung ihres enormen Arbeitspensums das Sonnenlicht nutzen, was sie tatsächlich zwingt, mit den Hühnern aufzustehen, um bis zum Sonnenuntergang alles erledigen zu können, was tages- und jahreszeitbedingt anstand beziehungsweise ansteht. Nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Arbeitsabläufe wurden und werden nach chronobiologischen Gesichtspunkten getaktet. Doch weil sie selbstständig waren und ihren Tagesablauf autonom organisieren konnten, waren sie in der Lage, individuell geplante Pausen einzulegen, damit sie die enormen Arbeitsanforderungen auch leisten konnten.

Die derzeitige Corona-Krise bietet die Gelegenheit, den Umgang mit seiner Lebenszeit zu reflektieren.

Was für Arbeiten in der Landwirtschaft notwendig und vorteilhaft ist, muss nicht unbedingt in anderen Bereichen und für alle Menschen gleich organisiert werden. Denn wenn die innere Uhr permanent mit Füßen getreten wird, folgen psychische Belastungen durch Müdigkeit, Niedergeschlagenheit und Leistungstiefs. Selbst handfeste körperliche Krankheiten basieren auf der Vernachlässigung chronobiologischer Bedürfnisse. Zudem fordert die fremdbestimmte Zeitgestaltung aller Chronotypen durch die vorgegebenen Aufenthaltszeiten in Schul- und Bürogebäuden den weitgehenden Verzicht auf den natürlichen Hell-Dunkel-Rhythmus. Während an einem Sommertag im Freien 100.000 Lux (Lumen pro Quadratmeter) und an einem grauen Wintertag wenigstens noch 3.500 Lux zu tanken sind, müssen sich Kinder und Erwachsene selbst in gutbeleuchteten Schul- und Büroräumen mit maximal 500 Lux zufriedengeben. Die Folge sind Krankheitszustände, die darauf beruhen, dass der Körper durch teilspektrales Kunstlicht falsche Signale zur falschen Zeit erhält und lebensnotwendige Prozesse in den Bereichen des Stoffwechsels, des Nervensystems, der Hormonproduktion und Zellerneuerung und -reparatur nicht richtig ablaufen können. Die erzwungene Entschleunigung durch die Corona-Krise mit den Auflagen, sich in vielerlei Hinsicht selbst zu Hause organisieren zu müssen, ist deshalb im Grunde ein unermesslicher Segen. Lebens- und Arbeitsabläufe können endlich wieder so organisiert werden, dass sie zu den Menschen, ihren chronobiologischen und sozialen Bedürfnissen passen, sie nicht krank machen und zeitlich sinnvoll im Leben untergebracht werden können.

Der Leerlauf als Schlüssel zur Wissensverarbeitung, Kreativität und Regeneration

Schließlich kann die Corona-Zeit, in der Außenaktivitäten nur eingeschränkt möglich sind, auch mit bewusstem Innehalten gefüllt werden. Auszeiten sind allein aus kognitionswissenschaftlichen Gründen notwendig und sinnvoll. Wie Bertrand Stern und Ulrich Klemm in ihrem Werk Vom Glück des Nichtstuns – Muße statt Pädagogik ausdrücken, ist Nichtstun ein aktiver Zustand, da das Gehirn auch im Leerlaufmodus Energie verbraucht. Das Denkorgan benötigt Regenerierungsphasen, ähnlich wie Schlaf, um zuvor Wahrgenommenes aufzuarbeiten und zu speichern. Deshalb unterstützen Phasen des Innehaltens, der Kontemplation und auch der Langeweile aus neurowissenschaftlicher Perspektive das Gedächtnis und die Wissensverarbeitung im Gehirn. Innehalten ist, ähnlich wie Gebet, Yoga, autogenes Training und andere Entspannungsübungen, zudem gesund und notwendig für ein funktionierendes Nervensystem, die Immunabwehr und viele weitere physische und psychische Funktionen, die unerlässlich für unser Wohlbefinden sind. Last but not least benötigt der Mensch Zeiten der Abstinenz, der Ruhe und gar der Langeweile, um im »Leerlauf« kreativ zu werden, sich fiktiven Gedankenspielen und geistigen Höhenflügen hinzugeben und dabei Ideen zu nähren, die sich zur rechten Zeit in der Wirklichkeit, im Hier und Jetzt, materialisieren wollen. Wenn das Volk der Dichter und Denker die Zeit und Muße hat, ohne Zeitdruck und Ablenkung autonom zu denken und zu dichten, wird aus der Krise eine große Chance.

Die derzeitige Corona-Krise kann demnach eine einzigartige Gelegenheit bieten, den Umgang mit der eigenen Lebenszeit zu reflektieren. Sie bietet die Zeit, nach innen zu spüren und zu schauen, wo die Interessen und Talente junger und älterer Menschen wirklich liegen. Sie kann darüber hinaus dazu beitragen, dass unsere chronobiologischen Bedürfnisse erkannt und wertgeschätzt werden und somit sogar zu mehr körperlicher und psychischer Gesundheit führen. Schließlich liegen in der Ruhe auch die Kraft und das Potential zu neuen Erkenntnissen und Einsichten. Solche Reifeprozesse brauchen Zeit und werden ansonsten aufgrund permanenter Fremdbestimmung durch Bildungsinstitutionen und den Beruf, Nachmittagsbetreuung und den Freizeitstress unmöglich gemacht. Deshalb kann gerade die derzeitige Zeit des Verzichts und des Rückzugs zur wertvollen Fähigkeit führen, die eigene Lebenszeit zufriedenstellend zu organisieren und wertschätzend mit ihr umzugehen: privat, schulisch und beruflich. ■

Marie-Sophie Frei

ist Juristin, Amerikanistin und Sprachwissenschaftlerin. Sie interessiert sich für die Verflechtung von Religion und Politik sowie für autonome Lernprozesse. Im Moment arbeitet sie an einem Projekt zum kindlichen Erstspracherwerb und ist als wissenschaftliche Publizistin tätig. Vor allem aber ist sie Mama eines sechsjährigen Kindes.

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