
Haben Kinder das Recht, zu schweigen?
… eine merkwürdige Frage, oder? Ist dir schon mal das Paradoxon aufgefallen, dass Kinder gleichzeitig still sein sollten, um nicht zu stören, aber auch Krach machen sollten, da das zum Kindsein dazugehöre und somit ein Hinweis auf glückliche Kinder sei?
Helen E. Lees
Dürfen Kinder freiwillig schweigen oder müssen Erwachsene es ihnen verbieten, um sie vor sich selbst zu schützen? Selbstgewählte Stille ist wohltuend. Kinder haben auch das Recht, nicht zu sprechen ...
Lärm tolerieren
In der abendländischen Tradition gibt es den Mythos, dass Kinder angehalten werden, so ruhig wie möglich zu sein. Damit sollten die Arbeit und das Ruhebedürfnis der Erwachsenen nicht gestört werden. Heutzutage sind sich die Erwachsenen des Bedürfnisses des Kindes nach ungehindertem Spiel im Interesse einer guten geistigen Gesundheit bewusster. Sie tolerieren vielleicht den natürlichen, fröhlichen Lärm, die Bewegungsfreiheit und die mögliche Unruhe der Kinder. Dennoch hält sich die Vorstellung hartnäckig, dass zwar Kinder gesehen, aber nicht gehört werden sollten. Es macht den Eindruck, dass Erwachsene eine Art Zwang auf die natürlichen Geräusche der Kinder ausüben, um ein ruhiges Leben zu führen. Ein schweigendes Kind kann für Erwachsene ein Trost sein, das Gegenteil ist ein Ärgernis. Doch nicht jeder empfindet das so. Einige Erwachsene genießen es wirklich, Kinderlärm zu hören, um sie als solche – Kinder – besser zu schätzen. Ausgiebiges, durchdringendes Lärmen in Form von endlosem Reden, Schreien, Kreischen, Quietschen? Vielleicht ist das in Ordnung, aber bitte nur ein bisschen.
Das schweigende Kind macht Angst
Was aber, wenn ein Kind selbst das Schweigen sucht und wählt? Was denken wir darüber? Diese stille Version eines Kindes entspricht nicht unserer stereotypen Vorstellung von einem gesunden jungen Menschen. Heutzutage stellen wir uns vor, dass ein Kind rau, laut und tobend sein sollte, als beruhigende Zeichen für Verspieltheit und einen glücklichen Mangel an Traumata.
Wenn es um Kinder und ihr Schweigen geht, sind wir geteilter Meinung: Wir mögen es, bevorzugen es sogar insgeheim, aber wir fürchten es; wir wünschen es uns, aber wir wollen es nicht, weil es etwas anderes bedeuten könnte. Wenn ein Kind sich für das Schweigen entscheidet, muss doch etwas nicht in Ordnung sein, oder?
Der Gedanke an ein schweigendes Kind, das dann wahrscheinlich einsam ist, kann bei Erwachsenen Angst auslösen. Wir könnten uns fragen, ob ein Entwicklungsziel verfehlt wurde oder ein unbekanntes Trauma in das Herz eines Kindes eingedrungen ist. Aber haben Kinder nicht ebenso wie Erwachsene ein Recht zu schweigen? Sollten wir alle die Entscheidung, still zu sein, schätzen und respektieren, anstatt sie als potenzielles Gefahrenzeichen zu betrachten? Ist das nicht eine gesunde, hilfreiche, vernünftige und gute Möglichkeit?

Wenn ein Kind sich für das Schweigen entscheidet, muss doch etwas nicht in Ordnung sein, oder?
Die Bedrohung durch das Schweigen
Kinder haben eindeutig kein Recht auf Schweigen. Nicht als persönliche Entscheidung. Sie sollten schweigen, um die Erwachsenen zu besänftigen, aber sie können es sich nicht aussuchen. Kinder können von Glück reden, wenn sie es sich aussuchen dürfen; wenn niemand etwas dagegen hat oder es irgendwie sabotiert. Sie haben kein Recht darauf. In der Schule werden Kinder oft als »unkonzentriert« bezeichnet, wenn sie schweigend aus dem Fenster auf einen Vogel in einem Baum starren. Ein schweigendes Kind, dem ein|e|ein Erwachsene|r|Erwachseny Fragen stellt, wird oft mit »Was ist denn mit dir los? Hast du deine Zunge verschluckt? Sprich lauter!« oder anderen beleidigenden Provokationen angesprochen, um sein Schweigen zu brechen. Kinder, die schweigen, geben Anlass zu Fragen, weil sie dadurch nicht durchschaubar sind. Was haben sie zu verbergen? Was wissen sie, das sie besser mitteilen sollten? Paranoia kann entstehen. Erwachsene werden mit dem Schweigen eines Kindes konfrontiert und fühlen sich außer Kontrolle.
All dies ist Teil eines fehlenden Konzepts für die Entscheidung von Kindern, zu schweigen und nicht zu reden. Das ist ironisch. Nicht nur, weil Erwachsene insgeheim eine Vorliebe für stille Kinder haben, sondern auch, weil das Schweigen in der Tat äußerst gesund ist, wenn es selbst gewählt ist. Wir gehen davon aus, dass Erwachsene das Beste für Kinder wollen? Nun, nicht, wenn es um ihr stilles Selbst geht.
Stille ist eine Frage der Fürsorge
Es muss ein Konzept dafür geben, dass Kinder ein Recht auf Stille haben, wenn wir uns richtig um sie und ihre Entwicklung kümmern wollen. Wissenschaftliche Untersuchungen in vielen akademischen Disziplinen zeigen, dass Menschen und Stille sehr gut zusammenpassen können. Es gibt viele Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder und Stille wunderbar zusammenpassen. In und mit der Stille zu sein kann sich positiv auf das Lernen, die Beziehungen, das Selbstwertgefühl und die körperliche Gesundheit auswirken. Dazu gehören auch Meditation und Achtsamkeit als stille Erfahrungen. Auch einfaches Innehalten kann nützlich sein und Wohlbefinden erzeugen. Wenn ein Kind stillsitzt, kann es von den vielfältigen Vorteilen der Stille profitieren, die sich auf alle Aspekte des menschlichen Lebens auswirken, von der körperlichen bis zur geistigen Ebene. Mit anderen Worten: Wenn Kinder die Stille selbst wählen, ist das das A und O für gute Ergebnisse.

Zu den stillen Erfahrungen zählen auch Meditation und Achtsamkeit.
Rechte und Macht
Können Kinder also ein Recht auf das haben, was gut für sie ist? Das Problem ist die Macht, wie immer, wenn es darum geht, mit Kindern umzugehen und ihnen das zu verderben, was für sie richtig ist. Der Gedanke, dass Kinder das Recht haben könnten, den Erwachsenen das Reden nicht »aufzuführen« und stattdessen die Kraft und Macht des Schweigens auf sich zu nehmen, um nicht mehr auftreten zu müssen, ist eine Bedrohung für jede|n|jedy Erwachsene|n|Erwachseny, der|die|das von einem Kind verlangt, dass es Respekt zeigt, antwortet, wenn es gefragt wird, oder das Kind ist, das er|sie|es erwartet. Zu schweigen ist manchmal eine Form des Widerstands gegen solche Forderungen der Erwachsenen, und die Erwachsenen können sich dagegen wehren. Merkst du, dass es hier nur um Erwachsene geht?
Schweigen als Konzept und Erfahrung ist sehr kompliziert. Von vielen Forscher|innen|Forschys wird es auch als »rutschig« bezeichnet, weil es sich den üblichen sprachlichen Abgrenzungen entzieht, weil es außerhalb eines sprachlichen Rahmens liegt. Es ist ein schwieriges Thema. Wie ich jedoch in meinem 2012 erschienenen Buch Stille in der Schule und in anderen Veröffentlichungen dargelegt habe, ist der Zwang, dass man uns sagt, wir sollen die Klappe halten, negativ und bringt uns keine Vorteile. Während die Stille, in die wir uns freiwillig und mit Enthusiasmus begeben, eine reiche Ressource für das menschliche Leben darstellt. Schweigen in der Gesellschaft hat in vielerlei Hinsicht eine qualvolle und schwierige Geschichte, doch Gemeinschaften und Beispiele von Menschen, die sich für das Schweigen entscheiden, zeigen, dass es in der Gesellschaft auch positiv existieren kann und muss. Was wir heutzutage brauchen, sind kleine Momente der Stille für den Einzelnen als eine Idee, die allen gleichermaßen gehört und nicht durch Zeit, Raum oder Ort bestimmt ist. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit zur Stille kann und sollte auch Kinder einschließen.
Ein Recht der Gedanken
Das Recht der Kinder auf Stille im Kopf ist ein bisschen wie das Recht auf Ernährung. Ich nenne dieses Recht auf Stille ein »Gedankenrecht«. Mit anderen Worten: Wir sollten Kinder entscheiden lassen, was sie denken. Nein? Kindern zu erlauben, in der Stille zu verweilen, ist eine Fallstudie in Antitotalitarismus.
Helen E. Lees
ist eine unabhängige Wissenschaftlerin für alternative Bildung. Sie ist Herausgeberin von Other Education - The Journal of Educational Alternatives. Sie lebt in der Nähe von Florenz in Italien und arbeitet als Schriftstellerin und Malerin.
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