Die Rechte kleiner Kinder

Solange die Diskussion um Kinderrechte die Bedürfnisse der Jüngsten ausspart, wird sie nur halbherzig geführt. Kleinkinderrechte müssen formuliert und eingefordert werden, um in die Diskussion Eingang zu finden. Acht Rechte, die jedes kleine Kind haben sollte.

Georg Milzner

Gegenwärtig ist viel von Kinderrechten die Rede. Darunter wird neben körperlicher Unversehrtheit zum Beispiel das Recht auf Bildung verstanden. Es ist gut und überfällig, über Kinderrechte zu sprechen. Die Diskussion hierüber verlangt aber eine tiefere Kenntnis davon, was Kinder für ihre Entwicklung brauchen.

Grundrechte sind nämlich nur dann wichtig, wenn sie auf Grundbedürfnissen basieren. Wo dies nicht zutrifft, da werden allzu leicht aus ihnen wieder Pflichten abgeleitet, wie etwa aus dem Recht auf Bildung die Schulpflicht erwächst und womöglich irgendwann, nachdem die Kitas nun zu Bildungseinrichtungen ernannt wurden, eine Kita-Pflicht.

Ich bin Psychotherapeut, also Fachmann für misslingendes Aufwachsen. Anders als jene, die an ihren Schreibtischen entwerfen, wie Kindheit doch zu sein habe, arbeite ich mit den Folgen schlimmer und schlimmster Kindheiten.

Aus dieser Arbeit folgt, dass ich mit manchem, was gegenwärtig mit Kindern geschieht, nicht einverstanden sein kann. Zum Beispiel halte ich die gegenwärtige Krippen-Politik, die vor allem eine Verhinderung der Selbstbetreuung durch die Eltern ist, in ihren langfristigen seelischen Auswirkungen für katastrophal (Milzner 2022). Weil sie nämlich die Grundbedürfnisse kleiner und kleinster Kinder in einem solchen Ausmaß frustriert, dass mit schweren langfristigen Folgen leider in hohem Ausmaß zu rechnen ist.

Hier liegt der Grund, warum ich nicht nur für Kinderrechte bin, sondern auch für die Rechte kleiner und kleinster Kinder eintrete. Während nämlich die Rechte Zwölf- bis 14-Jähriger, etwa in Hinsicht auf den Klimawandel ihre Meinung kundtun zu können, selbstverständlicher werden, werden die Rechte der Kleinen und der Kleinsten so wenig gehört wie die Rufe einsam sterbender Alter auf dem Höhepunkt der Corona-Krise.

Kinderrechte sollten auf Kinderbedürfnissen basieren

Was also sind die Bedürfnisse, um die es hier geht? Wo es um das Recht auf Nahrung, auf Sicherheit und auf körperliche Unversehrtheit geht, werden von den Kinderrechten zweifellos kindliche Bedürfnisse berücksichtigt. Wie aber sieht es mit dem Recht auf Bildung aus, das doch sehr zweischneidig ausgelegt werden kann, indem es den Zwang, sich bilden zu lassen, mit sich im Gepäck führt? Wie mit dem Recht auf den Zugang zu Medien und Informationsquellen, das sich ersichtlich auf ältere Kinder bezieht, während Zweijährige wohl eher andere Bedürfnisse haben?

In der Politik werden Kinderrechte umso bereitwilliger thematisiert, je näher die Kinder, um die es geht, dem Wahlalter kommen. Die kleinsten Kinder aber beschäftigen im Grunde niemanden, außer in Hinsicht auf die Exzesse der Frühdiagnostik, bei denen sehr zu bezweifeln ist, ob sie im aktuellen Ausmaß wirklich dem Kindeswohl dienen.

Wir wissen aber seit langem – und die Hirnforschung hat dies bestätigt – dass die wichtigsten und in ihrer Nachwirkung bedeutungsvollsten Jahre die ersten drei Lebensjahre eines Kindes sind (Strüber 2016). Wenn wir über Kinderrechte reden, sollten wir daher zuallererst über diese frühen Jahre reden.

Also: Auf was sollten kleine Kinder – Kinder bis, sagen wir, zum vierten Lebensjahr – ein Recht haben? Mein Vorschlag wäre: auf alles, was ihren Grundbedürfnissen entspricht. Das sind nach den Bedürfnissen nach Nahrung, Sicherheit und körperlicher Unversehrtheit vor allem die Bedürfnisse nach stabilen liebevollen Bindungen. Schon hier aber wird es problematisch, da der Begriff »Bindung« gegenwärtig auch von Institutionen im Mund geführt wird, die eher an der Zerstörung von Bindungen arbeiten.

Ich schlage daher in diesem Artikel einige Rechte vor, von denen ich mit wünschen würde, sie wären jetzt schon verbindlich. Das Recht auf Nahrung und körperliche Unversehrtheit setze ich dabei voraus, da beide in den allgemeinen Kinderrechten schon erwähnt werden. Meine Liste erhebt mit acht Rechten für kleine Kinder auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist eher als Anregung zu begreifen, die Bedürfnisse kleiner und kleinster Kinder neuerlich zu begreifen und in ihrer emotionalen Bedeutung wertzuschätzen.

Das Recht auf Anklammerung: Kleine Kinder suchen die Körpernähe ihrer Erwachsenen.

Die von mir vorgeschlagenen Rechte der Kleinen und der Kleinsten sind:

  • Das Recht auf Anklammerung
  • Das Recht auf Aufmerksamkeit
  • Das Recht auf Beziehungskonstanz
  • Das Recht auf Partizipation am erwachsenen Leben
  • Das Recht, nicht gefördert werden zu wollen
  • Das Recht, Ablösungsprozesse selbst zu bestimmen
  • Das Recht auf Reifung
  • Das Recht darauf, etwas zu wissen

Das Recht auf Anklammerung

Kleinste und kleine Kinder suchen die Körpernähe. Insbesondere die Körpernähe von Erwachsenen, die sie als ihre Liebes-Gegenüber erkannt haben und mit denen sie Schutz, Nahrung und Liebe verbinden.

Anklammerung erfolgt erst instinkthaft und wird dann zu einem Geschehen emotionaler Bindung, deren Prozesse weit in die Körperlichkeit hinein reichen. Wer zum Beispiel sieht, wie einer medizinischen Untersuchung wegen, ein Kind vom Arm der Mutter heruntergenommen wird, kommt um den Eindruck nicht herum, dass dies vielleicht kein großer, aber eben doch ein Akt der Gewalt ist.

Anklammerung erfolgt, um Bindungsverlust um jeden Preis zu verhindern. Anklammerung verhindert, im wahrsten Sinn des Wortes, »fallen gelassen« zu werden. Das sich anklammernde Baby am Bauch der Affenmutter signalisiert, wie real diese Gefahr und wie tief emotional wirksam das hinter der Anklammerung wirkende Bedürfnis nach Halt und nach Sicherheit ist.

Anklammerung ist, könnten wir sagen, das Gegenstück zur Ablösung. Wo diese fehlt, wird jene schwer. Beide müssen als gleichrangige kindliche Bedürfnisse akzeptiert werden (Mitscherlich 1990). Und wenn eine Mutter ihr Kind nicht in der Krippe zurücklassen möchte, weil sie sein Bedürfnis nach Anklammerung spürt, dann sollte der Satz, sie müsse lernen, sich vom Kind zu lösen, als so unprofessionell und unempathisch gebrandmarkt werden, wie er es seiner Natur nach ist.

Das Recht auf Aufmerksamkeit

Zu sagen, ein Kind wolle mit einem Verhalten nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen, bedeutet gegenwärtig zumeist: Sehen Sie nicht hin, es geht ja nur um die Aufmerksamkeit. Und um nichts sonst. Das Kind will im Mittelpunkt stehen. Einfach ignorieren.

Hierin steckt ein Denkfehler. Der nämlich, Aufmerksamkeit sei so etwas wie ein luxuriöses seelisches Zubrot, ein eigentlich zu vernachlässigender Faktor, wäre da nicht die kindliche Neigung, sich in einem fort in Szene zu setzen zu wollen. Besser also nicht hinsehen, sonst verstärkt man die Neigung noch.

Vielmehr verhält es sich so: Ohne Aufmerksamkeit gehen kleine Wesen ein, sie dörren seelisch regelrecht aus. Aufmerksamkeit, in der schönsten Variante angereichert mit echtem Interesse, ist der im digitalen Zeitalter heißeste Stoff (Milzner 2017), denn er wird zu einer schwindenden Ressource. Wo aber Jugendliche und junge Erwachsene fürchten müssen, im Netz zu verschwinden und nicht mehr gesehen zu werden (Altmeyer 2017), da sollte es selbstverständlich sein, einem kleinen Kind gegenüber aufmerksam zu sein.

Das Kleinkinderrecht auf Aufmerksamkeit würde heißen: Ja, du wirst gesehen. Ja, du kannst sicher sein, wir schauen dir zu. Ja, wir wollen hören, was du zu sagen hast. Und endlich: Ja, du bist (wie übrigens wir alle) ein unglaublich interessantes Wesen. Wo ein Kind versucht, diese Aufmerksamkeit zu erringen, da macht es eigentlich alles richtig.

Das Recht auf Beziehungskonstanz

Wo man sich wohl fühlt, da will man erst einmal bleiben. Das betrifft Orte wie Menschen. Die haltende, vertraute Beziehung ist der Hafen, von dem aus das Kind seine Reisen unternimmt, um immer wieder sicher zurückzukehren.

Zunächst sind das kleine, ja kleinste Reisen. Aber so kurz sie auch sein mögen, das Wissen um die sichere Heimkehr zu den vertrauten Personen ist in ihnen ebenso wirksam wie bei den späteren, weiteren Reisen.

Das Recht auf Beziehungskonstanz spricht dem kleinen Kind das Recht zu, auf die Präsenz seiner wichtigsten Bezugspersonen vertrauen zu dürfen. Das bedeutet im Fall von Selbst- oder gemeinschaftlicher Clanbetreuung, dass die Eltern oder nächsten Freunde sich verlässlich kümmern werden. Im Fall der Kita hieße es für das kleine Kind, dass die Bezugsbetreuer:innen verlässlich immer da sind – was dann leider oftmals nicht der Fall sein wird. Mal liegt das am schlechten Personalschlüssel, der bundesweit nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Mal an Urlaub, Fortbildung oder Krankheit.

Wenn ein Kind versucht, Aufmerksamkeit zu bekommen, um gesehen zu werden, macht es alles richtig.

Kinder, die nicht auf konstante, haltende Beziehungen vertrauen können, leiden unter beträchtlich höherem Stress als jene, denen diese Beziehungen sicher sind. Aus der Ethno-Psychoanalyse ist bekannt, dass Kinder, die sich ständig auf andere Betreuungen einstellen müssen, Schwierigkeiten damit haben, vertrauensvolle Beziehungen zu entwickeln (Parin, Parin-Matthèy und Morgenthaler 2006). Hieraus ergibt sich, es nicht bei einer vielleicht wünschenswerten Beziehungskonstanz zu belassen, sondern ein Recht auf Beziehungskonstanz für kleine Kinder zu formulieren und zu fordern.

Das Recht auf Partizipation am erwachsenen Leben

Das Recht auf Partizipation am erwachsenen Leben bedeutet, dass Kinder nicht nur unter sich leben sollten, sondern auch das gesellschaftliche Leben etwa auf Märkten, in Kaufhäusern, in Cafés und auf der Straße erfahren. In einer gesunden Kultur treffen nämlich Kinder sowohl auf Kinder als auch auf Erwachsene. Ebenso treffen Erwachsene nicht nur auf Erwachsene, sondern auch auf Kinder. Beide erleben einander, reiben sich aneinander, lernen voneinander.

Eine Kultur wie die unsrige, die Erwachsene und Kinder dauerhaft trennt, ermöglicht dieses Lernen nicht und schafft ghettohafte Strukturen. Dies mag Erwachsenen vordergründig ganz recht sein – vordergründig. Den Kindern aber wird so etwas Fundamentales verweigert. Denn für das, was Kinder immer tun – erwachsene Rollen nachspielen – fehlen ihnen nun die Modelle.

Und die Erwachsenen? Haben nun keine Chance, auf die kindliche Freude, die Lust am Spielen, Entdecken und Kommunizieren zurück verwiesen zu werden, die doch die Basis aller erwachsenen Glücksmöglichkeiten darstellt. Glück ohne Kindlichkeit gibt es nicht – und wer von Kindern nichts verstehen will, der versteht auch von sich selbst zumeist nicht viel.

Um der kleinen und kleinsten Kinder ebenso wie um der Erwachsenen willen möchte ich also ein Recht kleiner Kinder auf Partizipation am erwachsenen Leben plädieren. Hieraus ließe sich beispielsweise die Forderung ableiten, unsere Arbeitswelt so zu entwerfen, dass eine mitlaufende Selbstbetreuung kleiner Kinder möglich ist.

Das Recht, nicht gefördert werden zu wollen

Fördern und fordern – zwei scharfe Schwerter, mit denen zeitgenössische Bildungsgremien sich anschicken, die kindliche Psyche mental zurecht zu schnitzen. Nicht, dass wir uns missverstehen – ein Kind zu fördern, wenn dies einen Entwicklungswunsch kundtut, ist wunderbar. Aber so laufen die Wege der Frühförderung eben zumeist nicht.

Das Problem ist schon lange bekannt. Es ist über ein Jahrzehnt her, dass eine Spiegel-Ausgabe (42/2011) von den »überförderten« Kindern titelte. Das aufschlussreiche Wortspiel bildete zugleich eine These aus. Die nämlich, dass die Tendenz zum Fördern von Kindern ein Übermaß erreicht habe und der Punkt erreicht sei, an dem Förderung umspringe in unsinnige Belastung.

Etwa zur selben Zeit schrieb der Kinderpsychotherapeut Wolfgang Bergmann ein Buch, das den Titel trug Lasst Eure Kinder in Ruhe! (Bergmann 2012). Und das als vehementer Einspruch gegen die Kultur des Förderungswesens angelegt war, in dem Bergmann einen Ehrgeiz-Trend erkannte, der aus jedem Kind versucht, etwas möglichst Perfektes zu machen.

Spricht man mit Erwachsenen über ihre frühe Kindheit, so ergibt sich, dass die glücklichsten Kinder die waren, die man machen ließ – und die, wo sie Neues entdecken wollten, hierbei begleitet und unterstützt wurden. Nichts anderes ist fördern.

Die weniger Glücklichen waren die, die anstatt dessen, was sie eigentlich wollten, etwas Anderes, anscheinend Ähnliches angeboten bekamen.

Und am wenigsten Glück erlebten die, die verordneten Musikunterricht erhielten, zur Mehrsprachlichkeit nicht ermuntert, sondern genötigt wurden und deren implizites Wissen über das, was ihnen entsprach, ignoriert wurde.

Das von elterlichem Ehrgeiz ebenso wie von subtiler elterlicher Angst gespeiste Modell der möglichst frühen umfassenden Förderung kleiner Kinder bedeutet in mehreren Hinsichten eine Verengung (Milzner 2008). Das Kind schöpft in der Fördermaßnahme nicht mehr aus sich selbst, erprobt sich und lässt Stimuli, Ideen und Assoziationen kommen, sondern es folgt vorgegebenen Wegen, so subtil diese ihr Vorgegeben-Sein auch verbergen mögen. Jedes kleine Kind sollte das Recht haben, Maßnahmen dieser Art zu verweigern, um sich nach seiner Art zu entwickeln.

Das Recht, Ablösungsprozesse selbst zu bestimmen

Kinder lösen sich von ihren Eltern und Betreuenden – irgendwann. Für diesen Ablösungsprozess hat uns die Evolution mit allem Notwendigen ausgestattet. Das bedeutet, das Kind erfährt nach und nach an sich das Bedürfnis, sich aus der haltenden Nähe heraus in die Welt zu bewegen und seine Autonomie zu entfalten.

Wesentlich ist, dass diese Ablösung niemals eingefordert wird, wie es im Augenblick die Regel ist. Ihrer Natur nach geht Ablösung immer vom Kind selbst aus. Und nur, wenn wir ihm dies zugestehen, haben wir eine Gewähr dafür, dass das Sich-Lösen mit der kindlichen Bedürfnislage übereinstimmt.

Die heute durchgängig geforderte Ablösung sehr kleiner Kinder ist daher aus Sicht der Bindungsforschung wie aus therapeutischer Sicht ein schwerer Fehler. Sie löst, da sie die kindliche Bedürfnislage ignoriert, bei Kindern Not und bei Eltern unnötigen Stress aus. Organische, d. h. vom Kind selbst ausgehende Ablösungsprozesse basieren auf dem Erleben wachsender Kompetenz. Verordnete Ablösungsprozesse fordern diese Kompetenz zu einem Zeitpunkt ein, zu dem sie noch gar nicht vorliegen kann. Aus diesem Grund – und gegen aktuelle Trends in der frühpädagogischen Praxis – sollten kleine Kinder das Recht bekommen, selbst zu bestimmen, wann sie sich für eine Weile von ihren primären Bezugspersonen lösen möchten.

In einer gesunden Kultur treffen Kinder sowohl auf Kinder als auch auf Erwachsene.

Das Recht auf Reifung

Ab wann muss man sprechen können? Ab wann krabbeln, und ab wann laufen? Ab wann sollte ein Kind »sauber« sein (»rein« sind Kinder immer), und ab wann sollte es seinen Schnuller hergeben?

Zu allen diesen Fragen gibt es aufgeheizte Debatten, elterliche Konkurrenzgespräche und von Ärzt|innen|Ärztys und Psycholog|innen|Psychologys erteilte Ratschläge. Da nun aber so ziemlich alle Erwachsenen aufrecht zu gehen in der Lage sind, die allerwenigsten von ihnen eine Windel tragen und auch die Sprache einigermaßen funktioniert, so dürften wir uns eigentlich entspannt zurücklehnen und miterleben, wie die Zeit das Kind sich entwickeln lässt. Wie es sich hochzieht, erste Muster der Fortbewegung herausbildet, plappert, plaudert und spricht und endlich das Saugen verschmäht und mit der Toilette zurechtkommt.

Um dem Kind seine eigene Entwicklungsrhythmik zuzubilligen möchte ich daher noch für ein Recht auf Reifung plädieren. Reifung geschieht, man muss gar nichts machen – und vielleicht ist es dies, was für die große Unruhe unter Erziehenden und ihren Berater|innen|Beratys sorgt. Wenn Machen, Beschleunigen und Optimieren das Credo einer Epoche bilden, dann muss aus einer Selbstverständlichkeit eben ein Recht werden.

Das Recht darauf, etwas zu wissen

Dass Kinder ein Recht auf Bildung haben, ist einer jener Trompetenstöße, die überall da, wo es um gutes Aufwachsen geht, verlässlich erschallen. Erheblich leiser werden die zustimmenden Töne, wo es um das kleine Kind als ein wissendes Wesen geht. Eines also, das nicht nur belehrt werden muss, sondern das schon Wissen mitbringt.

Kein Kind kommt aber als leere Tafel auf die Welt, die dann von pädagogischen Fachkräften mit Schrift bedeckt wird. Auch ist das kleine Kind kein Bündel von Trieben und Reflexen, wie Biologie und Psychologie es lange Zeit umschrieben. Vielmehr hat Kind schon da, wo es in die Welt eintritt, etwas erlebt (Hüther und Krens 2005). Und gerade die so genannten »Schreibabys« scheinen etwas zu erzählen zu haben, worauf zum Beispiel der Umstand verweist, dass da, wo ihnen ungeteilte Aufmerksamkeit und die Bereitschaft zum Zuhören entgegengebracht werden, die Neigung zum Schreien nachlässt.

Wie nun, wenn wir kleine und kleinste Kinder als wissende Wesen ansähen? Die zwar unsere Regeln nicht kennen und deren Instinkte zur Meidung von Giftpflanzen nicht ausreichen, die aber gleichwohl ein implizites Wissen mit sich bringen, das insbesondere ihre Eigenheit betrifft?

Nun ist dies ein Wissen, das je nach Alter erfragt oder erspürt werden will und das voraussetzt, die frühkindlichen Mitteilungsformen als gültige Sprachmuster anzuerkennen. Auch ist es ein Wissen, das eben nicht »gebildet« werden muss, sondern bereits vorliegt. Und das, die Bereitschaft zum Fragen vorausgesetzt, sich auch deutlich zu zeigen vermag. Man kann eine Zweijährige durchaus fragen, wie lange sie glaubt, den Schnuller noch zu benötigen. Und der Dreijährige wird verlässlich antworten, wenn man ihn fragt, wie er sich ein gutes Verdauen denn vorstellt.

Was nun das Wissen der Allerkleinsten angeht: so offenbart sich hier überdeutlich, wie sehr wir Kleinkinderrechte benötigen, die an den Bedürfnissen kleiner Kinder orientiert sind. Wenn es nämlich darum ginge, ob Babys denn mit neun Monaten wohl gern in die Krippe fern ihrer nächsten Bezugspersonen möchten, dann würden sie, wenn sie nicht aus schlimmsten Verhältnissen kämen, laut Nein! schreien. Dahin aber kommt es nicht, ihr implizites Wissen über das, was ihnen wohltut und sie glücklich heranwachsen lässt, können diese Kinder nicht mitteilen. Ihr Schreien und ihr Widerstand gelten als normal. Niemand fragt sie, ob sie in fremder Umgebung unter vielen Fremden zurückbleiben möchten. Und wieso denn auch? Sie können ja noch nicht sprechen.

Literatur

Martin Altmeyer: Ich werde gesehen, also bin ich. Psychoanalyse und die neuen Medien. Vandenhoeck & Ruprecht, 2019.

Wolfgang Bergmann: Lasst Eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn in der Erziehung. Kösel, 2012.

Gerald Hüther & Ingeborg Weser: Das Geheimnis der ersten neun Monate. Unsere frühesten Prägungen. Patmos, 2005.

Georg Milzner: Das früh verengte Kind. Hirnforschung, sozialer Ausschluss und die Folgen der Frühförderung. In: Renate Kock und Henning Günther (Hrsg.): Lasst uns leben lebt mit uns! Pädagogik der sozial Ausgeschlossenen. Peter Lang, 2008.

Georg Milzner: Wir sind überall, nur nicht bei uns. Leben im Zeitalter des Selbstverlusts. Beltz, 2017.

Georg Milzner: Die Renaturierung der Kindheit. Für eine bindungsorientierte Betreuung kleiner Kinder. tologo verlag, 2022

Margarete Mitscherlich: Die friedfertige Frau. Fischer, 1990.

Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy & Fritz Morgenthaler: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychosozial-Verlag, 2016.

Nicole Strüber: Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen. Klett-Cotta, 2016.

Georg Milzner

ist Vater von vier Kindern aus drei Generationen, studierte Psychologie und Biologie und schloss das Studium mit dem Diplom in Psychologie ab. Als Vater hat er seine Kinder mit betreut, als Psychotherapeut setzt er sich mit Frühstörungen und Bindungsschäden auseinander. Er arbeitet als wissenschaftlicher Projektleiter am Institut für Hypnotherapie in Düsseldorf und in freier Praxis in Oldenburg. Er ist Autor von Digitale Hysterie und Die Renaturierung der Kindheit.

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